Angstkrankheiten - Übersicht

                                                                                     

Sehr geehrte Frau, sehr geehrter Herr,

sie leiden unter einer sehr merkwürdigen Erkrankung, die Sie bisher gar nicht verstehen konnten. In der Tat gibt es nach meiner Einschätzung nur drei Arten von Menschen, die diese Krankheit kennen: Die Betroffenen, manchmal ihre Angehörigen (weil die den wellenförmigen Verlauf, d.h. die Besserung und die Verschlechterung erleben ohne ersichtlichen Grund) und vielleicht fünf Prozent der Ärzte.(Und natürlich die Psychologen und Psychiater) Sonst versteht das

niemand.

 

Sie haben Angstgefühle erlebt, die für Sie gar nicht nützlich waren in dem Sinne, dass Sie instand gesetzt wurden, vor einer Gefahr auszuweichen, sondern die Angstgefühle haben Sie am normalen Leben gehindert. Das muss für Sie verständlicherweise unlogisch sein, unverständlich! Außerdem haben Sie wahrscheinlich die körperlichen Begleiterscheinungen von Angstzuständen erlebt wie:

Zu schnellen Herzschlag, Schmerzen in der Herzgegend, Kopf-, Nacken-, Rückenschmerzen, Störungen im Bauchraum, Schweißausbrüche, Müdigkeit und vorzeitige Erschöpfung, vielleicht auch Stimmungsschwankungen. Verstehen konnten Sie das bisher nicht. Denn Sie gingen davon aus, so vermute ich, dass es sich bei diesen unverständlichen und unwillkommenen Gefühlen und Reaktionen Ihres Körpers um Gefühle handele. Denn die Angst, die man dabei spürt, ist ja ein Gefühl, so wie die Depression auch als ein Gefühl verstanden wird.

 

Das Geheimnis ist aber, dass es sich bei Ihrer Erkrankung nicht um eine Störung Ihrer Gefühle handelt, wenigstens nicht dem Ursprung nach, allenfalls nachträglich, sozusagen als Folge, als Konsequenz. Denn nach meiner Überzeugung sind nicht Ihre Gefühle erkrankt, sondern die innere Kraft, Ihre innere Energie. Sicherlich ist das für Sie neu und bedarf einiger Hintergrundinformationen:

 

Unsere geistig-seelischen Funktionen lassen sich in drei große Bereiche aufgliedern:

1.)      in den Bereich des Denkens und Urteilens (Kognitionen),

2.)     in den Bereich des Fühlens (Freude, Trauer, Zorn, Angst, Verzweiflung)

3.)     in den Bereich „Innere Energie, innerer Motor“ (Antriebskraft, Lust zu     etwas haben).

Dass es die ersten beiden  Bereiche gibt, weiß jedermann. Dass es den dritten Bereich gibt, und dass dieser Bereich erkranken könnte, ist nahezu unbekannt und wird in den Lehrbüchern der Wissenschaftler auch nur an zweiter und dritter Stelle abgehandelt, meist als Unterfunktion zum Gefühlsbereich. Eine

solche Sichtweise macht jedoch die beobachteten Erscheinungen unverständlich.

Und ohne Verstehen leben wir schlechter als mit!

 

Wenn ein Homo sapiens vor 2000 oder vor 10 000 Jahren von einem wilden Tier angegriffen wurde, musste er entweder besser kämpfen als das Tier oder schneller rennen – oder er wurde gefressen. Die Angst und die dazugehörigen Körperreaktionen ( schneller Herzschlag, hohe Muskelaktivität, Zittern, Schwitzen, schnelle Atmung bis zur Atemnot) dienten also dem Überleben des Einzelnen in gefährlichen Situationen. Nun geht dieses Funktionsprinzip auch umgekehrt! Der Körper kann ohne erkenntlichen Grund in eine solche Angstfunktion gesteuert werden (also schneller Herzschlag, hohe Muskelaktivität, Zittern usw.) und dann tritt die Angst als zugehöriges Symptom auf, ohne dass wir einen psychologischen Grund (z.B. als Signalangst) dazu ausmachen könnten. Der Körper reagiert also, als ob er in einer gefährlichen Situation wäre, und unsere Gefühle reagieren ebenfalls so – nur ist gar keine Gefahr erkennbar! Nun halten die Menschen es aber schlecht aus, Angst  zu fühlen und nicht zu wissen wovor ( wir halten es auch schlecht aus, traurig zu sein und nicht zu wissen worüber!). Also sucht sich unser Inneres, sucht sich unsere Seele irgendetwas, wovor man passenderweise Angst haben könnte (irgendein Unglück, ein gesundheitlicher Schaden, möglicherweise der eigene Tod), und diese Gründe werden dann als Gründe für das eigene Angsterleben beim Psychotherapeuten oder beim Arzt vorgebracht. Ist er genügend fachlich gebildet, weiß er, dass die vorgebrachten Gründe für die geklagten krankhaften Angstzustände zwar die eigentlichen Gründe sein können, längst aber nicht sein müssen. Es kommt genauso als Grund in Frage, dass der innere Motor „ausgerutscht“ ist, dass der gegenüber immer Zustände erlebt, in denen er funktioniert wie ein „Auto mit Vollgas im Leerlauf“. Das heißt, innerlich dreht er ganz hoch, ist hoch gespannt, hat jedoch keinerlei Energie für die alltäglichen Verrichtungen seines Lebens, fühlt sich müde und interesselos. Oder – weniger schlimm – jemand bewegt sich wie ein Auto im zweiten Gang bei 90 km/h auf der Autobahn. Zwar fährt er, doch sehr unwirtschaftlich und mit viel zu hoher Drehzahl.

 

Das Wichtige an diesen Bildern ist, dass sie den Blick erlauben auf das Wesentliche: Auf die unnötig und unwirtschaftlich zu hohe innere Spannung, zu hohe innere Drehzahl. Dieser Gesichtspunkt ist deswegen so zentral wichtig, weil er die therapeutischen Maßnahmen erklärt, soweit diese medikamentös sind: Ein Mensch mit „Auto mit Vollgas im Leerlauf“ braucht eben  kein Beruhigungsmittel. Denn das würde seine Drehzahl vermindern und ihn eher leistungsunfähig

machen. Er braucht im Gegenteil ein  Anregungsmittel, d.h. eines, das ihm

erlaubt, seine eigene Energie wieder zu verwenden. Angstkrankheiten, d.h.

Krankheiten der zu hohen inneren Spannung, der zu hohen inneren Drehzahl werden also mit kraftstärkenden Medikamenten behandelt!

 

Am einleuchtendsten ist das im Beispiel des Autos im zweiten Gang auf der Autobahn: Wenn es möglich ist, doch wieder den vierten oder fünften Gang zu benutzen, läuft der Motor bei gleicher Geschwindigkeit viel langsamer, er erzeugt aber pro Umdrehung mehr Kraft. Und das ist das Geheimnis. Wenn unser Organismus mehr Kraft bereit stellen kann, können wir innerlich wieder langsamer laufen, leisten dabei gleichzeitig mehr. Damit ist das Geheimnis der kunstgerechten Behandlung der Antriebskrankheit erklärt, soweit es sich um die „endogene Panikstörung“ handelt, wie sie z.B. Professor Sheehan benennt.

 

Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einer gesunden Angst und einer kranken Angst? ( Analog gilt : Was ist der Unterschied zwischen einer gesunden und einer krankmachenden Trauer oder Depression?) Die Antwort ist sehr einfach. Die Angst ist gesund und lebensnotwendig, die uns besser macht, weil sie uns vor Gefahren warnt und zu adäquater Vorsorge (z.B. bei Prüfungsvorbereitungen) aktiviert. Und die Angst ist krankhaft, die uns schlechter macht, weil wir z.B. in einer Prüfung ein „Brett vor dem Kopf haben“ und uns gar nichts mehr einfällt, weil wir uns nicht mehr trauen, anderen Menschen zu begegnen und die Beziehung mit anderen Menschen auszuhalten und zu Leben. Wir trauen uns dann nicht mehr, eine Rede zu halten, oder im Supermarkt an der Kasse zu warten oder überhaupt das Haus zu verlassen. Wir werden dann zum sozialen Krüppel oder überhaupt lebensunfähig. Und wer will behaupten, dass solch ein Verhalten unserem Leben förderlich sei?

 

Sicherlich ist es für Sie hilfreich, wenn Sie sich informieren, welche Möglichkeiten für Angstreaktionen die Natur überhaupt vorgesehen hat?! Grundsätzlich gibt es vier Entstehungsgründe:

 

1.     Die Angst als Signalangst, als Reaktion auf eine Gefahr. Dies ist die schon beschriebene natürliche gesunde Angst.

2.    Die Angst als Reaktion auf unbewusste seelische Konflikte, oft auch als Reaktion auf lange geschluckten Ärger. Eine solche Angst bezieht sich natürlich auch auf Auslöser, die nicht mehr dem Bewusstsein zugänglich sind und durch eine Psychotherapie gebessert werden können. Sigmund Freud war

    der erste, der diese Art der Angstentstehung erforscht hat. A. Riemann hat

    diese Form der Angst noch in weitere Urformen unterteilt.

3.    Die Angst, bei der unserer innerer Motor zu hoch dreht, wir also energiekrank sind. Dies ist die oben beschriebene Angst; sie kommt sehr häufig vor und wird am wenigsten ihrem Wesen nach verstanden.

4.    Die Angst, die auftritt, wenn unsere seelische Haut nicht mehr richtig arbeitet, wenn wir außen und innen, wichtig und unwichtig, real und irreal nicht mehr trennen können. In ihrer schlimmen Ausprägung nennt man dieses Krankheitsbild die Schizophrenie und die dazugehörige Angst die psychotische Angst. Diese kommt zum Glück viel seltener vor als die Angst, wie sie unter 3. beschrieben ist. Sie wird jedoch genauso wenig verstanden (außer von den Betroffenen, wenn sie es erklärt bekommen haben, und von den Behandlern).

 

Welche dieser vier Angstmöglichkeiten bei Ihnen vorliegt, und wie darauf hin die Therapie aussehen soll, sollten Sie nicht selber entscheiden. Sie würden sich ja auch nicht zutrauen,  die Statik eines Hauses selber zu berechnen, sondern einen Architekten damit beauftragen. Für die korrekte Zuordnung Ihrer Beschwerden und deren Therapie sollten Sie genauso einen Fachmann beauftragen. Zum Glück gibt es solche Fachleute in erreichbarer Nähe. Sie sind psychologische oder ärztliche Psychotherapeuten oder Nervenärzte bzw. Psychiater.

 

 

 

Dr. Hans Heinrich vom Brocke

Monschaustraße 10

42369 Wuppertal