Antriebsmangel

Müssen es denn immer sofort Medikamente sein?

 

Oder sollte man nicht viel mehr den Problemen auf den Grund gehen, statt sie mit Medikamenten zuzudecken? Denn eigentlich könnte es doch so sein, dass man nach langem Leiden und langem Zögern sich endlich zum Gang zum Psychiater entschließt. Dann sind es vielleicht ein oder zwei Gespräche, in denen auch über die Kindheit geforscht wird. Und dann ist man wieder gesund – schöne heile Welt!

 

So göttlich oder halb götterhaft sind wir Psychiater jedoch nicht. Wir heilen auch nicht. Sondern wir empfehlen therapeutische Maßnahmen, unter denen Körper und Seele sich selber  heilen. Dabei dauert  das Gesundwerden  Zeit – genau so wie das Krankwerden! – es dauert zwei Monate oder zwei Jahre oder noch länger!

 

Den Ursachen auf den Grund gehen: Das ist in der Tat das vordringliche Anliegen des Arztes. Und welche Gründe kommen da infrage? Da sind einmal die von jedermann erwarteten psychologischen Gründe, d. h. nicht mehr funktionierende Annahmen über das Leben, auch Normen, die einmal in der Vergangenheit erworben wurde, die einmal in der Vergangenheit entschieden wurden und damals vielleicht sogar richtig waren, jetzt aber nicht mehr! Ich nenne all dies „Software-Störungen“, also unzweckmäßige Programme, die wir mit uns tragen. Dahin gehört auch die „Ärgervergiftungs-Krankheit“, auch die „Verbitterungs-Krankheit“. Zu deren Behebung brauchen wir die Psychotherapie, die in systematischer Form erstmals von Sigmund Freud entwickelt worden ist. Diese besteht in der Durchführung von 25 bis 80 Einzelsitzungen (ganz selten mehr) und sind zu verstehen wie ein Lernprozess ähnlich einer Lehre oder einer künstlerischen Ausbildung. Beide haben einen Anfang und ein zeitliches Ende und ziehen sich nie lebenslang durch.

 

Dann gibt es aber auch eine Störung der „Hardware“, also der Botenstoffe in unserem Gehirn, die nicht primär psychologisch verursacht wurden sondern schicksalhaft zu verstehen sind, in der Tat als chemische Störung des Nervensystems eben weiter vererbt werden. Von deren Existenz weiß die gesunde Bevölkerung nichts. Und die daran erkrankt sind, wissen es nur, wenn ihnen dieser Umstand erklärt wurde, sonst leiden sie unbekannterweise. Gelitten wird! Liegt diese Störung der Botenstoffe im Gehirn vor, sind die Symptome sehr vielgestaltig: Manche spüren tagsüber eine lähmende Müdigkeit und können doch nachts nicht schlafen oder sie haben zahlreiche körperliche Störungen, suchen deswegen viele Ärzte auf und müssen sich immer anhören: Frau Sowieso, Herr Sowieso sie haben nichts (oh, hätte der Doktor doch gesagt: ich finde nichts!) Die meisten Menschen geben irgendwann entmutigt die Arztlauferei auf und leiden still weiter. Bei anderen wird das Leiden durch zusätzliche Symptome wie unerträgliche (und unerklärliche!) Angstzustände, durch Unruhezustände, auch dadurch, dass sie sich selbst, ihr seelisches und körperliches Funktionieren nicht mehr verstehen, so unerträglich, dass sie sich doch dazu entschließen, einen Nervenarzt aufzusuchen. Oder ihr Hausarzt hat ihnen dazu geraten. Kommt dieser dann nach einem oder mehreren Gesprächen zu dem Schluss, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit doch eine Störung dieser Botenstoffe vorliegt, ist die Therapie natürlich medikamentös, mit Tabletten!

 Und damit ist die Frage des Themas beantwortet: Bei Störungen, die durch frühere Erlebnisse oder frühere Entscheidungen verursacht wurden, ist die Psychotherapie das Richtige. Bei Störungen, die durch verkehrt funktionierende Botenstoffe im Gehirn verursacht wurden, ist die Tablettentherapie die einzig sinnvolle therapeutische Maßnahme. Die dabei erforderlichen Erläuterungen des Arztes über die Krankheit und ihre Behandlung ist dann nicht mehr Psychotherapie, sondern eine Psychoedukation. Sie kann nützlicherweise auch in Gruppen stattfinden.

  

Grundsätzlich gilt, dass die meisten vom Nervenarzt empfohlenen Medikamente keine Sucht erzeugen, weder die gegen die Antriebsmangelkrankheit (Depression) noch die gegen die Selbstverfremdungskrankheit (Schizophrenie). Sie machen auch nicht müde – es sei denn, man möchte das als Nebeneffekt – und sie schädigen die Organe des Körpers in aller Regel nicht!

 

Dann gibt es noch die suchterzeugenden Beruhigungsmittel, mit denen die Symptome nur zugedeckt werden. Aber die verwendet der Nervenarzt fast nicht. Und wenn doch, dann nur nach sorgfältiger Abwägung der Vorteile und Risiken gemeinsam mit dem Patienten.

 

Müssen es immer Tabletten sein?

Wenn eine „Hardware-Störung“ vorliegt, natürlich ja. Wenn eine „Software-Störung“ vorliegt natürlich nicht oder evtl. unterstützend. Und bei Mischzuständen? Da braucht man beides.

 

Zu Risiken oder Nebenwirkungen von Psychotherapie oder Medikamenten fragen Sie Ihren Arzt.