Antriebsstörungskrankheit versus Depression

Mich ärgert es, daß in der Depressionslehre zwei völlig verschiedene Kategorien als solche nicht getrennt sondern in einem Atemzug genannt werden, so als seien sie eine Symbiose. Diese verschiedenen Kategorien sind die Antriebs oder Energiestörung einerseits und die affektive oder Gefühlsstörung andererseits. Natürlich gibt es da Wechselbeziehungen, zahlreiche sogar. Aber es sind eben verschiedene Entitäten, so wie das Herz ein anderes Organ ist als die Leber. Natürlich gibt es zwischen beiden viele Wechselbeziehungen (z. B. die Stauungsleber bei Rechtsherzinsuffizienz), aber es sind eben doch verschiedene Organe ein und des selben Organismus. Mittlerweile gibt es sogar Spezialärzte für diese verschiedenen "Kategorien" des Organismus, nämlich den Kardiologen und den Gastroenterologen. Der GastroKardioEnterologe wurde noch nicht erfunden.

Der Arzt, der Depressionen behandelt, ist aber immer ein solcher "Zwitter". Er wird es auch bleiben mit aller Selbstverständlichkeit, denn die wenigsten depressiv Kranken sind nur antriebsgestört oder nur affektgestört. Folgerichtig wird es auch selten eine nur antriebsgerichtete Therapie geben mit Antidepressiva oder eine nur gefühlsgerichtete Therapie mit Psychotherapie. Die Regel ist beides, wobei die Psychotherapie häufig supportiven und edukativen Charakter hat.

Der ICD 10 definiert die depressive Erkrankung folgendermaßen (Zitat): "In dem unten beschriebenen typischen leichten (F32.0), mittelgradigen (F32. 1) oder schweren (F32.2 und F32.3) der beschriebenen Episoden, leidet die betreffende Person gewöhnlich unter gedrückter Stimmung, Interessenverlust, Freudlosigkeit und einer Verminderung des Antriebs. Die Verminderung der Energie führt zu erhöhter Ermüdbarkeit und Aktivitätseinschränkung. Deutliche Müdigkeit tritt oft nach nur kleinen Anstrengungen auf." (Zitat Ende) (DILLING et al 1993). Dabei fällt auf, daß die Antriebs oder Motorstörung und zwar als solche anerkannt werden, aber sie kommen erst an dritter Stelle. Unklar bleibt, ob der Verlust von Interesse und Freude eine Störung der Gefühle bzw. der Gefühlsverarbeitung ist oder eine Störung der inneren Kraft, der Energie? Vielleicht soll das absichtlich unklar bleiben?! Der ärztliche Leser kann sich dann das Gewünschte heraussuchen.

Die Leitlinien "Müdigkeit" (N. DONNERBANZHOFF et al. 2000) übernehmen im Wesentlichen den ICDText, führen in den nachfolgenden Listen fakultativer Symptome den Energiemangel jedoch als ausgesprochen dispensabel, entbehrlich auf

Professor Siegfried Kasper führt in seiner Schrift "DepressionAngstZwang (1997)" die Symptome der Antriebsstörung und der Affektstörung auf, zusammen mit Gefühlsverlust (Anhedonie), dem Gefühl innerer Leere, Hoffnungslosigkeit und Angst, weiterhin Suizidalität. Häufig werde eine Konzentrationsschwäche bis hin zur Unfähigkeit sowie ein Grübelzwang, verbunden mit einer Denkhemmung beschrieben. Danach wird die psychomotorische Hemmung bzw. die psychomotorische Agitiertheit angeführt. (Zitat) "Unter den sogenannten somatischen Symptomen dominiert das Gefühl der Kraftlosigkeit und der fehlenden Frische, was von einigen Psychiatern als Störungen der Vitalität bezeichnet wird. Weitere somatische Symptome sind vegetative Störungen wie Schlafstörungen, Störungen der Libido und chronobiologische Auffälligkeiten, z. B. Verschlechterung der Stimmung in den Morgenstunden) sowie charakteristische Leit und Gefühlsstörungen sowie Schmerz, Druck, und Kältegefühle, Appetit und Gewichtsverlust. (Zitat Ende). Diese Aufstellung lässt vermuten, daß es zwischen den Antriebsstörungen und Affektstörungen keine kategorialen Unterschiede gäbe, da sie vielfach vermischt in einem Atemzug genannt werden. Das ist etwa so, wie wenn man in einem Lehrbuch der inneren Medizin die Herz und Lebererkrankungen in einem einzigen Kapitel und immer wieder durcheinandergehend abhandeln würde, weil ja beide Erkrankungen mit Erhöhung der Transaminasen verbunden sein können.

Professor Wolfgang Faust aus Ravensburg hält sich ebenfalls an die internationale Üblichkeit, Antriebs und Affektstörung in einem Atemzug zu nennen und dabei den Affektstörungen quasi selbstverständlich den Vorrang zu geben.

Nach meiner Beobachtung kommen jedoch Affektstörungen bei 6080 % aller depressiv Kranken vor, bei 2040 % jedoch kaum oder nur wenig. Weiter einzuengen vermag ich diese Zahl aus meiner Beobachtung nicht. Die verbleibenden 2040 % der depressiv Kranken sine depressione wurden früher unter der Diagnose "larvierte Depression" abgehandelt; in diese Diagnose gehören auch viele der somatoformen Erkrankungen.

Die Antniebsstörung, Energiestörung, Kraftlosigkeit findet sich nach meiner Beobachtung in 95 % aller Fälle. Daher sollte dieses Symptom eigentlich an erster Stelle stehen. Diese Aussage deckt sich mit neueren Befunderhebungen aus London, wo die Patientenmeinung von 1070 Antworten als häufigstes Krankheitssyndrom Müdigkeit und Antriebsmangel nannten, gefolgt von depressiver Stimmung, (TIERNAN, 2000).

Auch Prof. Rainer Tölle aus Münster führt an (Zitat): "Anders als sonstige Depressive ist der Melancholische gerade nicht traurig. Er fühlt sich leer, gleichgültig, versteinert, unlebendig und unfähig zu fühlen, auch unfähig zum Traurigsein. Da der Kranke hierunter leidet, bezeichnet man die Störung als gefühlte Gefühllosigkeit. Während viele Depressive gehemmt sind, erlebt der Melancholische eine durchgreifende Blockierung seines gesamten Antriebs, so daß er sich kaum zu etwas aufraffen kann. Alltägliches scheint ihm wie ein Berg, der Zeitfluss ist verzögert. Mit dem "Wollen", was die Umgebung oft bemängelt, hat diese Störung nichts zu tun" (Zitat Ende).

1905 hat KRAEPELIN die affektiven von den schizophrenen Psychosen getrennt und als verschiedene Kategorien, als verschiedene Krankheitseinheiten angegeben, nicht leugnend, daß es zwischen ihnen natürlich auch Wechselbeziehungen gäbe. Der Schizophrene leidet auch unter Affekteinengung und Depression. Da wird den vier A's nach EUGEN BLEULER (Autismus, Ambivalenz, Affektzerfahrenheit, Assoziations-zerfahrenheit) das fünfte A (Anhedonie, d. h. die Unfähigkeit sich zu freuen) hinzugefügt. Dieses sind natürlich Affektstörungen, die aber sekundär gesehen werden zu der primären Störung des Realitätsurteils, der Identität, der IchGrenzen (Unterscheidung von außen und innen) und der schizophrenietypischen Bindungsstörungen. Nach meiner Beobachtung gibt es jedoch neben den kognitiven Vollzügen und den affektiven Vollzügen auch noch die Antriebs oder Motorfunktionen als dritte, den ersten beiden gleichgeordnete Kategorie. Aber diese wird in der psychiatrischen Krankheitslehre mit den affektiven Störungen in einen Topf geworfen und zu einem Brei verrührt. Als Folge der daraus resultierenden Unklarheit werden dann neue, unnötige Krankheitsbegriffe geschaffen wie das chronische Müdigkeitssyndrom, was eigentlich nichts anderes bedeuten soll als Verminderung der inneren Energie und der seelischen Kraft ohne depressive Verstimmung oder mit reaktiver, d. h. sekundärer depressiver Verstimmung.

In meiner Ausbildung am Upstate Medical Center, Syracuse, New York, USA, lernte ich die` griffige Definition: Angst ist die Reaktion auf einen Verlust, bevor er passiert ist. Depression ist die Reaktion auf einen Verlust, nachdem er passiert ist.

Es fällt auf, daß es sich jedes Mal in der psychologischen Dimension dieser Phänomene um die Reaktion auf einen Verlust handelt. Nur die zeitliche Zuordnung bestimmt, ob Angst oder Depression die adäquate Reaktion sind. Gehen wir jetzt davon aus, daß ein Antriebsmangelkranker, dessen Krankheit wellenförrnig auftritt und ihn ein bis vier Monate entsetzlich quält, den Verlust seiner Energie und seiner Tatkraft zur Bewältigung der alltäglichen Verrichtungen und natürlich für seinen Beruf beklagt, in der Regel auch krankgeschrieben werden muß, dann ist es eigentlich nur zu verständlich, daß in den Antriebsmangelphasen der Betroffene depressiv reagiert. Es sieht dann phänotypisch so aus, als sei diese depressive Verstimmung das primäre Krankheitsphänomen. Es besteht jedoch immer wieder die Möglichkeit, daß das primäre Krankheitsphänomen die biologisch zu verstehende Antriebsmangel-krankheit ist. Eigentlich sollte man die nachfühlbare psychologische Reaktion dann nicht als Depression, sondern als situationsadäquate Trauer bezeichnen. Der Antriebsmangelkranke betrauert den Verlust seiner Vitalität und wird deswegen als depressivkrank bezeichnet.

Warum ist es so eminent wichtig, die Antriebsmangelkrankheit und die Affekt-erkrankung als getrennte Kategorien wahrzunehmen und erst nachträglich die Wechselbeziehungen im Einzelfall zu erarbeiten und zu bewerten? Weil daraus die grundsätzlichen Hinweise für die korrekte Therapie folgen. Die medikarnentöse Behandlung funktioniert bekanntlich nur, wenn die Compliance des Patienten hoch genug ist. Und diese wiederum ist davon abhängig, ob er seine Erkrankung und den Sinn und Zweck seiner Therapie versteht. Versteht er sie nicht, muß man davon ausgehen, daß er seine Tabletten nicht richtig nehmen wird mit der Konsequenz eines mangelnden Therapieerfolges. Die vielen Angstkranken, die ihre Herzphobie somatisieren, die vielen Schlafgestörten oder die mit dem anhaltenden somatofomen Schmerzsyndrom, müssen verstehen, warum antriebssteigernde Medikamente die optimale Behandlung sind und wie sie sich ihre eigene Dosis suchen analog der Verschreibung einer Brille, bei der auch der Patient die DioptrienZahl bestimmt und nicht der Arzt! Verstehe ich als Arzt die Erkrankung nicht richtig, kann ich dem Patienten keine richtigen, plausiblen und für ihn nachvollziehbaren Erklärungen geben. Versteht der Patient seine Erkrankung nicht richtig, sind seine Fähigkeit der Selbstwahrnehrnung und der daraus folgenden therapeutischen Schlussfolgerungen insuffizient.

Die Konsequenz ist, daß 1987 ein U. Kropiunigg feststellen mußte, daß ein psychosomatisch Kranker im Durchschnitt 8 Jahre in allgemeinärztlicher Behandlung geparkt wird und dabei auf 78 Arztkontakte kommt, bevor ihm spezifische Hilfe zuteil wird. Diese Zahlen sind jetzt gewiss günstiger aber immer noch ungünstig genug. Und sie sind letztlich ein Armutszeugnis (fast möchte man sagen: eine Schande) für die Medizin.

Exkurs:

Ähnliches gilt übrigens für die Behandlung der Schizophrenie, von der WERNER KISSLING feststellte, daß die Revolution in der PsychoseBehandlung durch Einführung der Neuroleptika darin bestanden habe, daß wir einem Drittel der Erkrankten sehr gut helfen konnten. Wir würden einem weiteren Drittel so gut helfen können (also den Behandlungserfolg um 100 % erhöhen), wenn die Mittel nur korrekt angewandt würden. Die korrekte Anwendung liegt jedoch ganz an dem richtigen Verstehen des Behandlers und an dem, was er seinem Patienten an Verständnis zu vermitteln vermag. Diese Erkenntnisse haben sich auch in der Behandlung des Diabetes mellitus durchgesetzt, weshalb jetzt die edukativen Bemühungen und die Selbsthilfegruppen sogar von den Kassen mitgetragen werden. Vor 20 Jahren wusste man davon noch nichts; damals war die Behandlung der Zuckerkrankheit ausschließlich Sache des Arztes und so gar nicht des "unmündigen" Patienten.

Exkurs Ende.

Es ist an der Zeit, daß die Störungen der Antriebsmangelkrankheiten, die der affektiven Erkrankungen und die der IchGrenzErkrankungen richtig verstanden, richtig wahrgenommen, richtig diagnostiziert und richtig therapiert werden. Ein etwas plakatives Beispiel möge das demonstrieren:

Eine Patientin mit rezidivierender depressiver Erkrankung vorwiegend in der Antriebsphäre profitierte sehr von Trimipramin 100 mg zur Nacht. Sie klagte jedoch über Glieder und Gelenkschmerzen, die nach dem Aufstehen am schlimmsten waren und tagsüber in verminderter Form immer wieder auftragen. Die Erhöhung vom Trimipramin auf 150 mg zur Nacht, die einwandfrei vertragen wurde, machte die Patientin völlig schmerzfrei (natürlich zum finanziellen Schaden der damit nicht mehr konsultierten Orthopäden. Wir dürfen nicht vergessen, daß die KROPIUNIGG'sche Studie implizierte, das 78 letztlich wirkungslose PatientenArztKontakte für die jeweiligen Ärzte finanziell lukrativ waren).

Konsequenz:

Die Lehre von den Antriebserkrankungen, den affektiven Erkrankungen und den kognitiven Erkrankungen, vor allem in ihrer leichten Form, sollte allen Allgemeinärzten, Internisten, aber auch Orthopäden und Frauenärzten bekannt sein. Denn die leicht Kranken sind häufig und werden von den genannten Disziplinen und am wenigsten vom Nervenarzt behandelt in der Tat, sie machen ja 30 % seines täglichen Clientels aus!

Die bekannte Tatsache, daß es von Antidepressiva keine Sucht gibt und daß auch nach jahrzehntelanger Anwendung keine körperlichen Schäden zu erwarten sind, ist außerordentlich hilfreich hinsichtlich der therapeutischen Möglichkeiten und beruhigend hinsichtlich des Grundsatzes "primum nil nocere".

 

H. DILLING, W. MOMEBOM M. H. SCHMIDT:

Internationale Klassifikation psychischer Störungen ICD 10 Kapitel VII (f) klinisch diagnostische Leitlinien 2.

Auflage Verlag Hans Huber: Bern, Göttingen, Toronto, Seattle 1992 2. Auflage Seite 139

 

N. DONNERBANZOFF, E. BAUM, P. MAISEL, C. DÖRR:
DEGAMLeitlinien Nr. 2: Müdigkeit 07.08.00, unautorisierter Leitlinienentwurf

U. KROPIUNIGG:
Psychosomatische Patientenkarrieren nach stationärer Psychotherapie: Behandlungseffekte. In Psychotherapie, Psychosomatik, medizinische Psychologie 37, (1987) 343346

TIIERNAN:
Depression: Patientenineinung gefragt, ECNPKongreß 09.09.2000, München,
in NeuroTransmitter 1.2001

R. TÖLLE:
"Melancholie, eine ungewöhnliche Krankheit" in Deutsches Ärzteblatt 1988, Heft 44, 31.10.1991 (59 A373 1)

 

Dr. med. H. H. vom Brocke                                                                                                                            17.07.2001
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