PSYCHODRAMA-INSTITUT MÜNSTER e.V.

 

Münsteraner Psychodrama-Tage in Coesfeld- November 2008

                    Referent:  Dr.med. Hans Heinrich vom Brocke

 

Thema:

Haben wollen oder Geben wollen – Krieg oder Frieden

 

 

 

Liebe Anwesende,

 

die Ihr hier Eurer Wesen treibt – gemäß dem Wort von Angelus Silesius : (Zitat)

 

„Mensch werde wesentlich,

 denn der Leib, der vergeht,

 das Wesen besteht!“ (Zitat Ende).

 

In dem Sinne noch mal: Liebe Anwesende. Da ist zunächst unser Thema: „Nehmen wollen oder Geben wollen - Krieg oder Frieden?“ In leichter Abwandlung des übergreifenden Tagungsthemas Krieg und Frieden . Geht beides miteinander und nebeneinander? Oder schließt das Eine das Andere aus? Schließt Krieg den Frieden aus oder umgekehrt? So sind wir schon mitten im Nachdenken! Denn genau genommen ist diese Frage von großer Brisanz! Und meine erste, vorläufige Antwort: Wenn Krieg und Frieden gleichzeitig bestehen können, ist das Ganze vielleicht lebbar. Wenn nur der eine Zustand oder der andere möglich ist, bedeutet das den Untergang der einen Partei, der Gemeinsamkeit – auf alle Fälle der bisherigen Lebenssituation. Bevor  ich diese Gedanken weiterspinne, möchte ich mich doch eben selber vorstellen aus der Vermutung heraus, dass ich vielleicht nicht allen von Euch bekannt bin – und allenfalls als eher unsichtbare, graue Eminenz. Ich bin Heiner vom Brocke. In meiner Geburtsurkunde steht statt Heiner allerdings Hans-Heinrich. Die Gründe für dieses Durcheinander lasse ich hier weg. Ich gehöre dem Psychodrama-Institut von Anfang an an. d. h. seit 1975. Ein Jahr später eröffnete ich die eigene neuropsychiatrische Praxis in Wuppertal, die ich als Kassenpraxis in fünf Monaten an meinen Nachfolger weitergeben möchte. Ich bin inzwischen in dritter Ehe verheiratet.

 

Meine erste Begegnung mit dem Psychodrama war im Mai 1971 auf der Jahrestagung der American Psychiatric Association im Rahmen meiner dreijährigen Psychiaterausbildung in den USA. Zerka Moreno leitete damals eine Kennenlernsitzung mit 400 Teilnehmern. 6 Wochen später hatte ich mein erstes Trainingswochenende im Moreno-Institut in  Beacon, New York.

 

Noch ein Wort, weshalb ich die Einladung zu diesem Vortrag angenommen habe? Denn vieles, das zu sagen ich im Sinn habe, ist sicherlich bekannt, vielleicht banal oder selbstverständlich. Aber es ist eben der Heiner vom Brocke, der Euch sagt, wie er bezogen auf dieses Thema das Leben sieht und sein Leben sieht. Und die Frage

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ist an Euch, ob jede oder jeder von Euch das genauso sieht? Oder doch ganz anders?

 

Aber jetzt zu unserem Thema: Beide Aspekte, nämlich Krieg und Frieden oder Krieg oder Frieden werden immer wieder aufleuchten. Der amerikanische Autohersteller Henry Ford sagte mal folgendes: (Zitat) „Das Leben ist ein ewiges Wechselspiel aus n e h m e n   und   b e h a l t e n.“ (Zitat Ende).

 

Der Gedanke von Henry Ford ist eigentlich merkwürdig: Nehmen und behalten ist doch fast dasselbe! Das erste ist der Vorgang, das zweite der daraus resultierende Zustand. Wo ist das Wechselspiel? Und vor allem: Wo ist das Geben-wollen? Ich  fürchte, dass da ein Teil der Weltsicht und des Pessimismus von Ford durchschimmert nach dem Motto: Es gibt nur ein Raffen und Konsumieren analog einem großen europäischen Geist, der das so formulierte „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Ich widerspreche Herrn Ford. Ich meine, das Leben sei ein ewiges Wechselspiel aus Habenwollen, also nehmen, oder Gebenwollen. Dieses Wechselspiel formuliert der große Psychologe  Erich Fromm etwas anders, wenn er sein wichtiges Buch überschreibt: „Haben  oder Sein –Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft.“ (Ein sehr lesenswertes Buch – ein Buch, das, meine ich, zur Pflichtlektüre eines jeden denkenden Menschen gehört!) Es berührt mich atmosphärisch durchaus, dass der erklärende Untertitel „Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft“ eigentlich auch von Moreno hätte stammen können. Dessen Soziometrie „Who shall survive?“ zielt in dieselbe Richtung. Es bestehen schon große Ähnlichkeiten zwischen beiden Konzepten. Denn Nehmenwollen oder Habenwollen kann jeder. Das bedarf keiner besonderen Identität. Es geht schon los mit dem Hungergeschrei des Säuglings, der verkündet: Ich bin hungrig, ich will etwas haben. Ohne zu leugnen, dass auch der Säugling bereits etwas geben kann, was spätestens mit seinem Lächeln losgeht. Das eigentlichen Geben ist daran gebunden, dass der Gebende jemand geworden ist, der geben kann.Wenn ein Kunde, dessen Auto nicht mehr fahren will, einen Helfer für sein Auto sucht, das muss das jemand sein, der den Beruf des Kraftfahrzeugmechanikers gelernt hat und – wundersamer Weise – ist er plötzlich das, was er gelernt hat. Durch das, was er gelernt hat, was er genommen hat an Unterrichtung, was er genommen hat an Fähigkeiten, hat sich sein Sein geändert, und er ist zu jemandem geworden, der er vorher nicht war, nämlich ein Kfz-Mechaniker. Und mit diesem neuen Sein kann er auch geben. Wäre er Bäcker geworden  oder vielleicht Hippie oder  einfach Analphabet geblieben, hätte er dem Kunden mit dem kaputten Auto die gewünschte Hilfe nicht geben können. Es sind also auch das Sein eines Menschen, wie er geworden ist, und die Fähigkeit zum Geben aneinander gekoppelt.

 

Das heißt, ich kann nur geben, wenn ich vorher etwas genommen habe. Und in der Regel gebe ich nicht genau das weiter, was ich genommen habe, sondern durch das Nehmen bin ich jemand geworden, der überhaupt geben kann.

 

Wenn man also in der Lebensgeschichte ( oder Leidensgeschichte) eines Menschen entdeckt, das seine Wünsche des Nehmens viel zu wenig erfüllt wurden, weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart, darf man darauf schließen, dass der Reifungsprozess, dass das Erwachsenwerden nicht recht gelungen ist. Und damit bin

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ich bei einem diagnostischen Prinzip der psychologischen oder psychiatrischen Software-Störungen, das als Passepartout alle Neurosen verständlich beschreibt und damit die ersten Hinweise für eine funktionierende Psychotherapie liefert, nämlich die psychologischen Altersdiagnose. Wie alt ist ein Mensch innen drin entsprechend seinen Erwartungen des Nehmens (und entsprechend seiner Reifungs-entsprechenden Funktionshöhe) im Gegensatz vielleicht zu seinem tatsächlichen, chronologischen Alter? Ich will das an einem Beispiel deutlich machen: In einem Altenheim behandelte ich zunächst eine 78 Jahre alte endogen-depressive Patientin (endogen soll heißen: Hardware-Störung), die zusammen wohnte mit ihrer 68 Jahre alten neurotisch depressiven Schwester. Diese Schwester sagte über sich folgendes: (Zitat) „Das Heimweh nach Zuhause wird immer größer!““ (Zitat Ende). Jetzt wusste ich aus ihrer Lebensgeschichte, dass die besagte jüngere Schwester mit 18 Jahren ihr Elternhaus verlassen hatte. Jetzt fing ich an nachzudenken: In welchem Alter ist das Heimweh eigentlich normal? Wo gehört es normalerweise hin? In welches Reifestadium? Und da meine ich doch, irgendwo in die Reife zwischen 4 und 14 Jahren. Nehmen wir mal als ungenaues arithmetisches Mittel: Im Durchschnitt mit 8 Jahren. Also wusste ich, die vor mir sitzende Frau ist innerlich in irgendeinem Winkel ihres Herzens 8 Jahre alt – äußerlich ist sie bereits 68. Daraus folgte,  was ich therapeutisch zu tun hatte: Ich brauchte bloß flugs aus der immer noch 8jährigen eine 68jährige reifen zu lassen. Und ich hätte gewonnen! Eine solche therapeutische Potenz hätte mich allerdings in die Nähe des allmächtigen Gottes gerückt. Und in diese Nähe fühle ich mich gar nicht gehörig. Konsequenz: Ich habe dieses therapeutische Ziel mit der Patientin nicht angestrebt sondern habe den Auftrag angenommen, der zur geringen, vorübergehenden Leidensminderung geeignet erschien, nämlich den Auftrag: Herr Doktor, seien sie mir eine gute Mutter und ein guter Vater! Die Frau hatte wenig zu geben. Sie hatte ein dringendes Bedürfnis, zu nehmen.

 

Erfolgreicher war da schon die Psychotherapie meiner dritten Lehrpatientin während meiner Ausbildung. Diese damals 23 Jahre junge Frau hatte in ihrem Reifungsprozess Verzögerungen erlitten, die zu Ängsten und Depressionen und auch zu Funktionsstörungen führten auf dem Boden eines zu frühen Rollentausches vom kindlichen Funktionieren zum erwachsenen Funktionieren. Sie hatte beispielsweise beschrieben, dass sie als Neunjährige von der Schule nach Hause gekommen war und dort ihre sturzbesoffene Mutter auf einem Stuhl schlafend vorgefunden hatte mit einer noch brennenden Zigarette in der Hand. Das Mädchen habe der Mutter erst mal die Zigarette aus der Hand genommen und diese gelöscht, dann eine Decke genommen und um die Mutter herumgeschlungen, so dass diese nicht friere. Und dann sei sie bei der Treppe jede zweite Stufe betretend im Haus

nach oben gegangen – und zwar immer auf der Stufe, die nicht knarrte. Hätte sie durch das Knarren die Mutter geweckt, wäre die vielleicht böse geworden und hätte ihr rechts und links eine runtergehauen.

Psychodynamik: Das Kind hat so wenig als Kind bekommen, dass sein Reifungsprozess dadurch gestört war. Dass er in der Psychotherapie doch gelungen ist, zeigte eine ihrer Äußerungen in der letzten Sitzung. Sie sagte: Früher kam ich mir so vor, als würde auf dem Weg zur Arbeit an einer Stelle jemand stehen, der mir

 

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jedes Mal einen Schlag auf den Kopf versetzt. Durch die Arbeit hier bin ich darauf gekommen, dass ich ja auch einen anderen Weg nehmen konnte!

 

Übrigens sprach die junge Frau im Rahmen der Alkoholkrankheit ihrer Mutter niemals vom Alkohol, vom Wein, vom Stoff oder wie man das immer hätte bezeichnen können sondern immer von „der Flasche“. Und als ich im Rahmen der therapeutischen Arbeit immer mit der Flasche konfrontiert wurde, dämmerte es mir plötzlich, dass das eben genannte psychodynamische Gesetz doch auch hier anwendbar wäre: Es gibt doch im Leben eines Menschen eine Phase, da ist die Flasche völlig normal und keinerlei Hinweis für eine Krankheit! Gemeint ist das Lebensstadium eines Einjährigen, der sein Fläschchen bekommt. Seither habe ich mir angewöhnt, die Alkoholkranken zu sehen als Menschen, die in irgendeinem Winkel ihres Herzens leider nicht älter als 1 Jahr geworden sind und immer noch an der Flasche hängen. Ich hatte die Phantasie, in meinem Wartezimmer ein Wandbord anzubringen mit einer Milchflasche darauf mit Sauger, einer Limoflasche mit Sauger, einer Bierflasche mit Sauger und einer Schnapsflasche mit Sauger. Aber dann habe ich diesen Gedanken verworfen, weil ich gewahr wurde, dass ich den Patienten vor sich und seinen Angehörigen viel zu schnell und viel zu ungefragt entblößen würde! Denn die Botschaft, dass es immer die selbe Flasche ist, nur mit etwas anderem Inhalt, wäre zu deutlich gewesen! Warum sag ich das hier? Um das Prinzip klar zu machen, um das es geht!

 

Ich denke an die 60-jährige Frau, die in mehreren langen Sitzungen mir klar machte, wie sehr sie unter der alle Kinder beherrschenden Mutter gelitten hatte. Wie sehr die Mutter mit ihren selbstsüchtigen Anforderungen und Befehlen ihr das Leben schwer gemacht hatte. Die selbe Frau berichtet dann unter Zornestränen, dass die Mutter sie aber an ihrem 60. Geburtstag nicht angerufen habe! Ich muß sehr verdattert dreingeguckt haben, als sie das sagte, denn die Patientin hat das Thema in Zukunft nie wieder angesprochen. Ich habe an der Stelle mich auch sorgfältig jeden Kommentars enthalten. Denn mein Kommentar wäre gewesen: Ein Glück, dass Sie ihren 60. Geburtstag ungestört haben feiern dürfen! Aber das war absolut nicht der Punkt, den die Patientin machen wollte, eher das genaue Gegenteil! Die selbe Patientin hat es übrigens fertig gebracht, mich in einer Sitzung, die auf 50 Minuten begrenzt war, auf 90 Minuten auszudehnen, obwohl ich das gar nicht gewollt hatte! So viel Macht des Gespräches und der darin unausgesprochenen berechtigten Erwartungen hatte sie auf mich ausgeübt. Ich hatte mir vorgenommen, ihr später zu interpretieren, wie sie mit mir umgegangen war. Dazu hatte ich in den eher spärlichen späteren Gesprächen keine Gelegenheit mehr. Ich bin jetzt noch fassungslos, wenn ich an so viel geballte Kleinkindhaftigkeit in dieser erwachsenen Frau denke.

 

Da ist noch die stationäre Behandlung eines älteren, dünnen Alkoholkranken, dessen erheblich umfangreicher geratene Ehefrau mich als behandelnden Arzt mal aufsuchte, um mir ihre Sicht der Dinge darzutun. Sie schimpfte zunehmend lauter und viel lauter, als ein Rohrspatz es könnte, dass ihr Mann doch endlich mal seine Pflichten erfüllen solle, regelmäßig zur Arbeit gehen, ihre berechtigten Erwartungen zuhause erfüllen solle, den Alkohol bleiben lassen solle, und was er sonst noch solle,

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solle, solle! Diese Schimpfkanonade, die mir klar machen sollte, was sie als meine therapeutische Aufgabe ansähe, ließ in mir den Gedanken aufkommen: „Oh Gott, wenn ich mit der Frau verheiratet wäre, würde ich auch zum Alkoholiker!“ Ich habe diesen Gedanken aber nicht laut ausgesprochen. Es gibt schließlich eine ärztliche Schweigepflicht.

 

Habt Ihr gehört, dass ich den Wünschen, etwas zu nehmen, bzw. den Erwartungen ein Suffix angefügt habe, nämlich die Hinzufügung BERECHTIGT!?

Inzwischen habe ich mir angewöhnt, das Wort Erwartungen nie mehr solo, nie mehr nackig zu benutzen sondern immer mit dem Beiwort „berechtigt. Ich spreche also immer von den „berechtigten“ Erwartungen.. Denn ich bin noch nie jemandem begegnet, der seine Erwartungen für unberechtigt gehalten hätte.

Aber jetzt kommen wir zu einem wichtigen Punkt: Wenn Erwartungen ohne dieses Beiwort, also sagen wir Wünsche, Sehnsüchte, nicht erfüllt werden, dann ist die Reaktion Trauer, vielleicht Resignation. Wenn aber unsere berechtigten, berechtigten Erwartungen nicht erfüllt werden, dann ist die Reaktion anders, nämlich Zorn, Ärger! Und ich kenne vielfältige Formen der Ärger-Vergiftungskrankheit! Ich kenne fast keine Trauer-Vergiftungskrankheit. Und in die Ärger-Vergiftungskrankheit zu gehen, ist ein Weg. Nach MORENO gibt es in einer Konfliktsituation immer mehrere Lösungen. Er hatte die Mindestzahl 10, die er suchen wollte, um dann seinem Patienten zu überlassen welche von diesen 10 Lösungen der Patient wählte: Welche möchten Sie? frage ich dann meinen Gegenüber.

 

Statt mich körperlich oder seelisch zu vergiften getreu nach dem so salopp dahin gesagten Satz: „Ich ärgere mich“ (also 2 Personen: Der Ärgerer und das arme Opfer, das geärgert wird), kann ich ja auch meinen Gegenüber ärgern, diesen vergiften oder unsere Beziehung vergiften. Und damit bin ich zentral bei meinem Thema: Wenn ich „berechtigterweise“, „berechtigterweise“ etwas nehmen möchte und nicht kriege, dann mache ich Krieg! Dann ist Schluss mit lustig, Schluss mit Frieden! Die Frage, ob ich Krieg oder Frieden mache, Unglück oder Glück, Hass oder Liebe, hängt also davon ab, wie weit ich ein Nehmenwollender bin oder wie weit es mir gelungen ist, ein Gebenwollender zu werden? Und wie weit in meiner Position als Nehmenwollender ich von der Berechtigtheit meiner Berechtigung überzeugt bin und wie weit ich auf die Berechtigtheit meiner Berechtigung poche. Dazu ein literarisches Beispiel aus „Gottesbegegnung am wunden Punkt “Hanne Baar und Jana Herzberg:

 

Eigentlich will ich nur in Ruhe gelassen werden und hier liegen und weinen, bis meine Mami zu mir kommt.

Du sollst zu mir kommen!

Schreien, bis du aufwachst? Schreien, bis die Wände wackeln und dir das Trommelfell platzt?

Ich habe keinen Einfluss darauf, ob die Mutter kommt oder nicht.

Ich kann nicht das geringste tun.

Wie kann ich dich nur in die Knie zwingen?

Ich habe in völliger Hilflosigkeit und Bedürftigkeit um Hilfe geschrien, habe umsonst gebeten und meine Not gezeigt – habe mich quasi nackt ausgezogen und bin auf die Knie gegangen – alles umsonst.

Diese Demütigung nehme ich auf den Tod übel. Diese Kränkung vergebe ich nicht.

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Mörderische Wut!

Ich will Gerechtigkeit! Ich will, dass mir jemand Recht gibt, dass ich den Wunsch nach Geborgenheit haben darf. Ich will, dass festgestellt wird, dass ich nicht bekommen habe, was mir zugestanden hätte. Ich will mich nicht nur abfinden mit dem Gedanken, ich verlange zu viel. Es hätte mir zugestanden, als Baby versorgt zu werden, Nähe, Geborgenheit, Wärme, Milch, Verlässlichkeit, eine gute MAMA.

Das hätte mir zugestanden.

 

Gerechtigkeit!!!

Einer muß Schuld sein! (jemand anderes als ich).

Ich habe Angst, dass am Ende ich die Angeschmierte bin, wenn ich erwachsen werde und vergebe, loslasse. Ich gebe meine Ansprüche auf, und was ich kriege, sind Seifenblasen. Und ich stehe wieder mit leeren Händen da. Reingelegt!

 

Gott, ich bin es Leid, wie mein Leben heute vergiftet wird aus meiner Vergangenheit. Ich habe es satt!

 

Hörst du mich!!   I c h    h a b e    e s    s a t t ! ! !

Ich will doch einfach nur normal leben!

 

Ich fürchte, dass der Wunsch dieser jungen Frau, einfach nur normal zu leben, und ihre Entscheidung, auf dem Recht ihrer nicht erfüllten, berechtigten Erwartungen zu bestehen, sich gegenseitig ausschließen.

Wie sagt doch der jüdische Philosoph Bernhard BARUCH (Zitat): „Ein Geheimnis eines langen, erfüllten Lebens ist,

jedermann alles zu vergeben, bevor man zu Bett geht,

auch sich selbst!“ (Zitat Ende).

 

Die junge Frau macht übrigens deutlich, dass sie grundsätzlich eine Freudeverwertungsfähigkeit hat. Lasst doch mal folgenden Text gemütshaft auf Euch wirken:

Bis einer kommt und

mich weckt, einer, der mit

meinem Körper umgeht

wie mit einem kostbaren

Instrument, der ihn

kennt und vertraut ist

damit, der mich darüber

staunen lässt, der eine

schöne Melodie erklingen

lässt, die ich noch nie

gehört habe.

Einer, der meine Seele

und meinen Körper

sanft aufweckt, vor dem

ich keine Angst habe,

der mir geschickt nah-

kommt.

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Wenn eine Frau eine so schöne, zarte Poesie zustande bekommt, wenn sie also eine Wahrnehmung ausdrücken kann, wie das Zwischenmenschliche auch sein könnte, dann ist sie allemal kein Borderline-Mensch, dann ist sie allemal nicht 100 %

innerlich kaputt! Aber es fällt doch auf, dass sie von dem spricht, fast ausschließlich spricht, was sie von ihrem Gegenüber haben möchte. Ich erkenne kein Wort darüber, was sie geben möchte! Aber doch hat dieses „Haben wollen“ eine andere Qualität als der frühere Text. Es fehlt der Hinweis auf die Berechtigheit des berechtigten Anspruches, es fehlt die Drohung für den Fall des Ausbleibens der Erfüllung ihrer Wünsche und ich meine zwischen den Zeilen zu lesen, dass da steht: Wenn mir das passiert, könnte ich eine Andere werden als ich bisher bin, nämlich eine Liebende und nicht nur eine frustriert Hassende. Dass sie eine werden kann, die den Frieden schön ausgestalten kann statt immer nur Krieg machen zu müssen.

 

Bei der Aussage:

(Zitat): Ich habe in völliger Hilflosigkeit und Bedürftigkeit um Hilfe geschrien, habe umsonst gebeten und meine Not gezeigt – alles umsonst! (Zitat Ende) kam mir der Gedanke, dass die Autorin irrt, möglicherweise sogar lügt. Denn sie war nicht völlig hilflos und nicht völlig unbefriedigt bedürftig! Wäre sie das gewesen, hätte sie nicht weiterleben können, wäre längst tot  und hätte diesen Text nicht schreiben können. Aus der Tatsache, dass sie als junge Frau noch am Leben ist, folgere ich, dass sie ihre Basisbedürfnisse nach Nahrung, Wärme, Schutz erfüllt bekommen hat.

 

Berechtigte Erwartungen:

Ich denke an eine Frau in meinem sozialen Atem, die mal sagte, dass es sie wahnsinnig mache, wenn ihr Mann den Müll um-sortiere. Wahnsinnig soll in dem Zusammenhang wohl heißen: Außer sich vor Zorn! Wütend! Also wurden wieder „berechtigte“ Erwartungen nicht erfüllt! Welche eigentlich? Ich überlasse Euch die Antwort! – füge nur hinzu, dass ich häufig den Müll umräume. Aber meine Frau sah noch nie einen Anlass, darüber zu schimpfen.

Es soll auch Ehepaare geben, von denen der Eine die Zahnpastatube quer ausdrückt, der andere aber von hinten. Das gibt bitteren Streit, denn die „berechtigten“ Erwartungen werden nicht erfüllt, dass der eine sich so verhalte wie der Andere. Psychodynamik: Ich habe an Dich die „berechtigte“ Erwartung, dass Du so bist wie ich! (Wie in My fair Lady: Warum kann eine Frau nicht so sein wie ein Mann?)

 

Meine Gedanken gehen noch einmal zu einem privaten Kriegsschauplatz, nämlich dem der Ehe. Ich pflege meinen in dem Bereich leidenden Patienten zu erläutern, dass es in meiner Sicht grundsätzlich zwei Arten von Ehen oder eben menschlichen Beziehungen gäbe: Solche des Nehmens und solche des Gebens, solche aus Mangel und solche aus Überfluss. Bei der aus Mangel sagt Partner A zu Partner B: Mir fehlt etwas und du hast es: Gibst du es mir?

Partner B antwortet: Ja, gern! Dann geht es dir ja auch besser. Weißt Du, mir fehlt auch etwas, etwas anderes, was du hast. Gibst du es mir? Zu Anfang einer solchen Beziehung sagt das Gegenüber in der Regel auch ja.

 

Die Beziehung aus Überfluss ist anders strukturiert. Hier sagt Partner A zu Partner B: Mir fehlt überhaupt nichts. Ich bin in mir und mit mir glücklich. In der Tat: Ich habe

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zuviel, ich habe Überfluss, mehr als ich brauche. Magst du was davon? Nimmst Du’s? Und Partner B würde antworten: Ja, gern. Mein Leben wird damit reicher. Übrigens: Mir geht es auch so. Was du mir gibst, macht mein Leben schöner, wertvoller, aber ich könnte auch ohne. Und in der Tat habe ich mehr als ich brauche. Von dem, was ich mehr habe: Nimmst du’s?

 

Wenn ich genau hinschaue, erscheint mir die Ehe aus Mangel eine ganz typische und gesetzlich auch so definierte Handelsbeziehung. Es ist eigentlich, wie wenn ich an einem Samstagmorgen in den Bäckerladen gehe und sage: Ich würde gerne mit Brötchen frühstücken, habe aber keines. Geben sie mir welche? Ja gern, antwortet

die Verkäuferin, 2,73 € bitte. Das ist natürlich jetzt seitens der Verkäuferin eine berechtigte Erwartung. Wird sie nicht erfüllt, kommt Ärger auf. So ist es in den Ehen aus Mangel eben auch. Wenn in der Beziehung des Haben-Wollens etwas nicht nach der Vorstellung der berechtigten Erwartungen geht, haben wir Krieg. Ein solcher ist in den Beziehungen aus Überfluss gar nicht möglich! Wenn ich mir die Klagen meiner PatientInnen, seltener auch meiner Patienten anhöre darüber, wie wenig der Partner die berechtigten Erwartungen erfüllt!, weiß ich gleich, mit welcher Beziehungsstruktur ich es zu tun habe. Jedes Mal muß ich neu entscheiden, ob ich meinem Gegenüber diese Überlegungen sage oder nicht. Und diese Entscheidung hängt wiederum sehr an dem Auftrag, den ich erhalte oder den ich mit etwas Mühe herausarbeite. Wenn der lautet: „Machen sie, Doktor, dass mein Mann sich ändert von einem, der meine berechtigten Erwartungen nicht erfüllt zu einem, der sie doch erfüllt, dann bin ich wieder in der eigentlich peinlichen Situation, zu entscheiden, wie weit ich meinem Gegenüber verständlich machen möchte, dass dieser Wunsch grundsätzlich unerfüllbar ist. Manchmal entgegne ich, dass in meiner Lebenserfahrung der Wunsch, den anderen zu ändern, in aller Regel drei Konsequenzen zur Folge hat: Die erste ist Leid, die zweite ist Leid und die dritte ist immer noch Leid  -  und zwar bei allen Betroffenen, bei dem der sich ändern soll und bei dem, der diese Änderung fordert.

 

Ich erinnere mich an das Psychodrama in meiner Ausbildungszeit von James Enneis, dem Psychodramaleiter aus Washington während einer der Weiterbildungstagungen. In den sorgfältig gestalteten Anwärmszenen beschrieb die Protagonistin, vielleicht 35 Jahre alt, in lebhaft Mitleid heischender Weise, wie alle ihre berechtigen Erwartungen an den Ehemann nach mehr Zeit, mehr emotionaler Zuwendung, mehr Reden u. s. w. nicht erfüllt wurde. Den weiteren Gang und das Ende dieses vor 36 Jahren erlebten Psychodramas kann ich mich nicht mehr erinnern, wohl aber an die Ausführungen des Leiters in der Prozessanalyse: Er wies darauf hin, dass bei all den Mängeln und Versagungen durch den Ehemann die Frau ja doch auch Vorteile von ihm hätte: Die finanzielle Versorgung, den gesellschaftlichen Status – an diese beiden items erinnere ich mich jetzt noch. Wieder haben wir das Gezerre von

Nehmenwollen, Habenwollen, mündend in ehelicher Unzufriedenheit und sicherlich irgendwann in der Zerstörung der ganzen Beziehung. Ich glaube, damals fing ich an, ein Gespür für das Nehmenwollen und für die Berechtigtheit dabei zu entwickeln.

Ob es eine Beziehung des Nehmenwollens oder des Gebenwollens ist, beschreibt die Autorin Esther Vilar in ihrem Buch:

„Das polygame Geschlecht“ folgendermaßen: Man stelle sich ein Filmdrehbuch vor, dass folgende Szene enthält:

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Sonne, Meer, einsamer Strand, ein Mann und eine Frau:

Der Mann:     Liebling, du bist so still. Was hast du?

Die Frau:       Nichts.

Der Mann:     Sag schon

Die Frau:       Ich weiß nicht, wie ich es dir beibringen soll.

Der Mann:     Wie du mir was beibringen sollst?

(Pause)

Die Frau:       Ich möchte dich verlassen.

Der Mann:     Du hast einen anderen?

Die Frau:       Ja

Der Mann:     Bist du sicher, dass du ihn liebst?

Die Frau:       Ja

Der Mann:     Mehr als mich?

Die Frau:       Ich kann ohne ihn nicht mehr leben.

Der Mann:     (legt den Arm um sie): Wunderbar.

Die Frau:       Wie bitte?

Der Mann:     Ich sage „wunderbar“ nimm ihn dir.

Die Frau:       Du freust dich?

Der Mann:     Warum sollte ich mich nicht freuen?

Die Frau:       Du liebst mich also nicht mehr?

Der Mann:     Im Gegenteil.

Die Frau:       Du liebst mich?

Der Mann:     Ich liebe dich, ich will, dass du glücklich bist. Erwartest du etwas                          anderes?

 

Spätestens an dieser Stelle greift der Produzent, der das Drehbuch gerade liest, zum Telefon und verlang nach dem Autor. Er fragt ihn, ob er den Verstand verloren habe: Er habe doch ausdrücklich eine Liebesszene bestellt, aber das sei doch nie im Leben eine Liebesszene. In einer echten Liebesszene müsse der Mann hier seiner Frau den Schädel einschlagen oder wenigstens so tun. Darauf müsse er in den Wagen springen, mit heulenden Reifen davonfahren und seinen Rivalen verprügeln.

Doch der Autor findet sich nur widerwillig zu einer Änderung breit: Ein Mann, der seine Frau wirklich liebt, sagt er, verhalte sich so und nicht anders. Wahre Liebe sei in erster Linie selbstlos.

Würde der Produzent sich auf weitere Diskussionen einlassen, käme dabei vermutlich heraus, dass es zwischen Mann und Frau zwei verschiedene Arten von Liebe geben müsse: eine verzeihende und ein rächende, eine opferwillige und eine besitzergreifende, eine gebende und eine nehmende.....(Zitat Ende)

 

Hoppla! Es fällt doch auf, dass die Autorin Vilar am Schluss ihrer Ausführungen genau bei unserem Thema landet: Eine Gebende und eine Nehmende... Stimmt das so? Sollten unsere zwischenmenschlichen Beziehungen und unsere Ehen so strukturiert sein? Sind wirklich die Beziehungen aus Nehmen ausschließlich ein Hinweis auf Unreife, kindlich gebliebene Partnerinnen und Partner? Oder sind hier nicht auch biologische Prozesse am Werk, die das Besitztum hüten? Wir wissen doch, dass ein Löwe, der sich eine neue Partnerin erwählt hat, erstmal deren bisherige Jungen tot beißt, damit sein eigener Nachwuchs die größere Chancen habe? Wie viel Nehmen wollen und wie viel Geben wollen gehört zu einer guten,

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einer erfolgreichen oder einer sehr moralischen Beziehung? Ich stelle fest, dass ich als 67-jähriger an der Stelle immer noch offene Fragen habe. Und ich lasse die Fragen hier stehen ohne eine Antwort zu formulieren.

 

In dem Text von Frau Vilar wird noch etwas Weiteres offensichtlich. Nämlich das Phänomen der „Nicht-zueinander-Sprechbarkeit“. Dieser Begriff ist entsetzlich hölzern und vielleicht sollte ich einfach davon sprechen, dass zwei Menschen sich einfach nicht verstehen können. Das trifft sicherlich für den Autor und den Produzenten in Frau Vilars Text zu. Das trifft für alle ehelichen Partner zu, von denen der eine die sexuelle Treue voraussetzt und natürlich auch fordert i. S. eines Alleinverfügungsrechtes über die Sexualität des Anderen (es handelt sich um eine Form des Nehmens!) analog dem Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik zu Zeiten, als es noch eine DDR gab, gegenüber dem Partner, der seine Sexualität mit Mehreren leben möchte. (Das trifft nicht zu für eine Ehe, in der beide Seiten die sexuelle Ausschließlichkeit gegenseitig schenken möchten  -  ein Phänomen des Gebens!).

Dieses Phänomen, dass zwei Menschen sich einfach nicht verstehen können, finden wir aber auch, wenn Darwinisten mit den unmittelbar bibelgläubigen Christen sprechen, die an die Evolutionstheorie des biologischen Werdens glauben, , die davon ausgehen, dass so Theorien wie Urknall oder Evolution höchst unchristlich seien und dass die Welt in 6 Tagen erschaffen worden ist, davon am 1. Tag die Trennung von Licht und Finsternis. In Amerika ist dieses Phänomen häufiger anzutreffen als in Europa. Ich habe mir von Strömungen sagen lassen, dass per Gesetz verboten werden solle, in den Schulen das Evolutionsmodel zu unterrichten und dass nur das wortwörtlich bibelgetreue Model unterrichtet werden dürfe.

 

Eine merkwürdige, dabei aber höchst erfolgreiche Mischung von Friedensbewegung und kriegerischer Taktik kennzeichnet das Vorgehen der Organisation Greenpeace Rex Weyler, jetzt 60 Jahre alt, war einer der Gründer der Greenpeace-Bewegung, dem es gelang, den Rücken eines Wals zu fotografieren, in dem eine tödliche Harpune steckte. Damit hatte er die emotionsgeladenen Fotos, die als Beweisstücke in einem weltweiten Krieg dienten. Munition für „Mindbombs„, die in den Köpfen der Zeitungsleser und der Fernsehzuschauer zünden sollten. Der Begriff „Gedankenbombe“ stammt von Bob Hunter, dem visionären Kopf der frühen Greenpeace-Bewegung. Wie ist es Greenpeace gelungen, ihr Anliegen einschließlich der Weißsagung der Cree-Indianer unters Volk zu bringen? „Am Ende werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann!?“ Antwort: Indem er die Regeln der Kriegführung für die Organisation von Greenpeace und für die Ausbreitung ihrer Ideen verwendeten. Ich zitiere aus einem Artikel der „Welt am Sonntag“ Nr. 13 vom 30. März 2008: (Zitat): „Allen pazifistischen Überzeugungen zum Trotz verschlangen Hunter und Weyler Klassiker des militärischen Denkens. Strategie, Planung und Disziplin bildeten die Eckpfeiler ihres Denkens. Keine erfolgreiche Mindbomb ohne konsequente strategische Planung, lautete ihr Credo. Eine Kampagne ist ein komplexes Projekt, an dem zahlreiche Akteure beteiligt sind und verschiedene Medienkanäle nach festem Zeitplan mit verschiedenen thematisch geschichtet

en Kommunikationselementen bedient werden müssen. Im Idealfall gleicht eine Kampagne einem Räderwerk, bei dem die verschiedenen Elemente und Aktivitäten

 

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wie Zahnräder ineinandergreifen und sich wechselseitig verstärken. Wie Heeresteile bei einem Feldzug.

 

Die zentrale Bedeutung strategischen Denkens wird inzwischen in renommierten Wirtschaftshochschulen gelehrt. Auch hier wird die militärische Herkunft nicht geleugnet: Carl von Clausewitz’ Theorien stehen auf dem Lehrplan der Harvard Business School, die Georgetown University in Washington hat ein Studienfach Informationskrieg“, in Paris wurde gleich eine ganze „Schule für den Wirtschaftskrieg“, die Ecole de Guerre Economique, ins Leben gerufen. Es ist ein Krieg der Bilder: Wer die besten Headlines und Fotos bekommt, gewinnt!“ wusste Bob  Hunter vor 30 Jahren. Daran hat sich nichts geändert. (Ende des Zitats).

 

In meiner amerikanischen Zeit, also zwischen 1970 und 1972 las ich mal in der Zeitung eine Leserzuschrift, die darauf abzielte, dass es schließlich berechtigte Erwartungen gäbe! So sei es doch für einen Geschäftsmann berechtigt, wenn er Gewinne machen wolle! Und für einen General, dass er siegen wolle! Aber wenn ein General seine berechtigten Erwartungen, zu siegen, verfolgen kann: Was passiert? Es sterben für den alten Mann (denn Generäle sind ja nie jung) ganz viele junge Leute, die des Gegners und die des eigenen Volkes. Die 6. Armee des zweiten Weltkrieges gegen Russland war 300.000 Mann stark. Davon wurden im Lauf der Kriegshandlungen totgemacht 210.000 (mein Vater mit eingeschlossen, als ich ¾ Jahr alt war).

 

90.000 kamen in russische Gefangenschaft um, 6.000 kehrten zurück. Auf russischer Seite kamen 1.200.000 Rotarmisten um. Also starben alleine in diesem Feldzug und in dieser Schlacht 1.500.000 junge Leute für die berechtigten Erwartungen von Herrn Hitler, Herrn Stalin und auch General Paulus, der seinerseits ein gut versorgtes Weiterleben in Dresden bis zu seinem seligen Ende – ich glaube es war 1963 –

finanziert bekam. Für die berechtigen Erwartungen der amerikanischen Administration im Irak-Krieg haben 4.000 junge Amerikaner ihr Leben lassen müssen. Und wir sind doch Zeuge, wie alle die von mir jetzt genannten Regierungen der Welt ihre Berechtigtheit vorweisen: Herr Bush sprach von den friedensgefährlichen Lagern an Atomwaffen im Irak; Herr Hitler gab den Tagesbefehl  aus, (Zitat): Morgen um 6.30 Uhr wird zurück geschossen.(Zitat Ende).  Dabei waren die Polen, die den Sender Gleiwitz angegriffen hatten – worauf Hitler dann reagierte – deutsche Soldaten in polnischen Uniformen! Worauf will ich hinaus? Dass selbst so schreckliche Diktatoren wie Hitler oder Stalin es sehr nötig fanden, die Berechtigung ihrer Maßnahmen vor aller Welt zu präsentieren. Krieg ist, wenn meine berechtigten Erwartungen nicht erfüllt werden....

 

Im 16. Jahrhundert tobte in Deutschland der Bauernkrieg und der Theologe Müntzer stellte sich auf die Seite der Bauern, Luther stellte sich auf die Seite der Fürsten und schrieb seinen „Sendbrief von dem harten Büchlein wider die Bauern“. Die Schriften dieser beiden Prediger geraten in eine Dynamik, die sehr an die moderne Form von Gewaltverkettung erinnert: Der Bauernkrieg wird zu einem Terrorismus der Armen gegen die Reichen und der Fürstenkrieg wird zu einem Terrorismus der Reichen gegen die Armen. Wie üblich, haben die rebellierenden Armen verloren. Aber verloren hat damals – wie auch überwiegend heute – zugleich der Geist der

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Versöhnung und der Menschlichkeit. Damit schließt sich der Kreis. Knapp 500 Jahre nach dem Bauernkrieg haben wir – nunmehr im globalen Maßstab – eine ganz ähnliche Konstellation. Wieder entspringt die Gewalt einer eklatanten Ungleichheit, diesmal der Macht des wohlhabenden Westens und der Ohnmacht der armen islamischen Länder. Dieses Mal haben die Reichen keinen Luther zur Seite sondern einen „Fürsten“, der sich selbst als vom Himmel Berufener erklärt. Die Armen auf der Gegenseite werden wiederum von Gotteskriegern in die Schlacht geführt. Aber der Gott des Attentäters Mohammed Ata trägt den Namen Allah. Erneut haben die Mächtigen natürlich die überlegenen Waffen und nennen die Aktion ihrer Streitkräfte Krieg während die Rebellen aus dem Hinterhalt auf terroristische Weise töten und

zerstören. Kurz: Wir kommen zu dem Schluss, dass der gegeißelte Terrorismus nur die eigene Herrschaftswillkür der Reichen – mit den Mitteln der Schwachen – widerspiegelt. (so weit Gedanken, die ich aus dem Buch „die Krise der Männlichkeit“ von Horst-Eberhard Richter entnommen habe).

 

Ein fast skurriles Beispiel für die Vorliebe, die Berechtigung der berechtigten Erwartungen religiös zu untermauern, findet sich im Garten meiner Urgroßeltern, den ich in den letzten 8 Jahren selber bewohne bzw. selber nutze. Es findet sich darin ein Totenmal für den Großonkel Hans-Heinrich Braun, der in den letzten Tagen des ersten Weltkrieges noch bei Dünkirchen ums Leben gekommen war (und nach dem ich dann offiziell benannt wurde). In der im Stein gemeißelten Inschrift heißt es: (Zitat) „Wer den Tod im heilgen Kampfe fand, ruht auch in fremder Erde im Vaterland“. (Zitat Ende). Warum erwähne ich das alles hier? Weil ich deutlich machen möchte, welch vielfältige, merkwürdige und immer wieder religiös verbrämte Facetten diese Berechtigung der „berechtigten“ Erwartungen hat – deren Nichterfüllung dann zwangsläufig zum Krieg führen

 

In der Zeitschrift GEO vom September 2008 las ich unter der Überschrift „Mama Maggy – der Engel. der  aus der Hölle kam“ die Beschreibungen der Auseinandersetzungen zwischen den Hutu und Tutsi  im afrikanischen Land Burundi im Jahre 1994. Da sie als Lehrerein sich weigerte, zwischen den Kindern beider Volksstämme Unterschiede zu machen und da sie beide gleichwertig behandeln und unterrichten wollte, kam sie in erhebliche Konflikte. (Zitat): „Sie haben mich auf einen Stuhl gefesselt und die Hutus der Reihe nach vor meinen Auge mit Macheten in Stücke geschlagen.“

Juliette, eine mit einem Hutu verheiratete Tutsi, legte Maggy ihr Baby Lydia auf den Schoss und Juliettes dreijährige Tochter Lisette klammerte sich an den Stuhl, an den Maggy gebunden war. „Juliette“, erinnerte sich Maggy, flehte mich an:zieh unsere Kinder groß, dich werden sie nicht umbringen!“ Jemand schlug ihr den Kopf ab und

warf ihn mir auf den Schoss. Der Mörder war mein eigener Onkel. Und tatsächlich wird Marguerite Barankitse wie durch ein Wunder verschont. Als die Schlächter verschwunden sind, kann sie sich freimachen von den Fesseln. Sie beginnt, nach Überlebenden zu suchen. In einem Schrank findet sie mehrere Kinder, zitternd hinter der Robe des Bischofs. Und auf der Straße den kleinen Piere-Clavère, an dessen Kopf die Wunden von 9 Machetenhieben klaffen.

Weitere Kinder kommen aus ihren Verstecken. 25 sind es schließlich. Lauter übrig gebliebene, in deren schreckensgeweiteten Augen und verständnislosen Gesichtern

 

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Marguerite Barankitse ihre künftige Aufgabe schicksalshaft zu erkennen glaubt: die Rettung dieser kleinen Menschen.

 

Etwas weiter schreibt sie: Und Marguerite Barankitse ist beiden Seiten suspekt: „Die Tutsi sahen in mir eine Verräterin, die Hutu nur eine Tutsi“, sagte sie. „und für meine Kinder hatten alle nur Verachtung übrig“.

Jetzt übrigens, 14 Jahre nach dem Massaker: Lydia, das Baby, jetzt 14 Jahre alt, will Journalistin werden, Lisette, 17 Jahre alt, zur Polizei. Frau Barankitse hat übrigens dafür gesorgt, dass die meisten Kinder im Alter zwischen 8 und 14 Jahren sich ihre eigenen Häuser bauten, die ihnen dann auch gehörten. Und warum mußte so etwas Entsetzliches passieren wie geschildert? Weil die Tutsi die berechtigte Erwartung hatten, als Herrenrasse und etwas Besseres über die Hutu herrschen zu dürfen, diese evtl. auch ganz auszulöschen.

 

So was kennen wir aus dem Deutschland von 1933 bis 1945 ja auch. Die „berechtigte“ Erwartung nach den Ölfeldern des Kaukasus führte zum Kaukasus-Feldzug; die berechtigte Erwartung nach der Ukraine führte zum Feldzug durch die Ukraine bis Stalingrad.

 

In einer Schülerzeitung fand ich folgenden Bericht über ein hier stattfindendes Theater:

 

„Klamms Krieg“

 

Lehrer Klamm bekommt von seiner Klasse einen Brief mit ungewöhnlichem Inhalt, denn auf seinem Schreibtisch liegt eine Kriegserklärung. Sein Schüler Sascha hat das Abitur nicht bestanden und Selbstmord begangen. Nun machen die Schüler

Klamm dafür verantwortlich. Aber seine Position ist klar. „Schule ist Zwang. Das war sie immer, das wird sie immer sein, und Lehrer wie Schüler verdanken diesem Zwang ihre gemeinsame Existenz.“ In diesem Glauben nimmt er den Kampf gegen sein schweigendes Gegenüber auf.

 

(Zitat): „Es kann in dieser Sache keine Verständigung geben. Nicht zwischen mir und Ihnen. Ich bin Lehrer. Meine Aufgabe ist es, Ihnen etwas beizubringen. Wer fragt, ob ich lieber andere Schüler hätte als Sie? Mein Ideal eines Schülers steht nicht zur Debatte. Ebenso wenig wie Ihr Ideal eines Lehrers“. (Zitat Ende).

 

In meiner Praxistätigkeit der letzten Jahre erlebe ich zunehmend, dass die berechtigten Erwartungen der Arbeitnehmer auf no-mobbing auf verbale Anerkennung durch den Vorgesetzten, auf fürsorgliche Telefonanrufe oder Besuche während ihres Krankenstandes so wenig erfüllt werden, dass eine tiefe innere Empörung resultiert, von Michael Linden in Berlin „Verbitterungskrankheit“ genannt. In der Regel fällt einer, dessen berechtigte Erwartungen im Arbeitsleben nicht erfüllt wurden, zwischen 6 und 12 Monaten aus. Von wem rede ich? Von denen, die nehmen wollen und es unberechtigter Weise nicht kriegen.

 

Zum Schluss mache ich einen Exkurs, der die Frage beleuchtet, ob Nehmen wollen oder Geben wollen etwas mit Krankheit zu tun hat? Wenn jemand durch das

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Missverhältnis von Nehmen und Geben krank wird, gibt es dafür einen ICD-Code? Dieser Exkurs ist eine Kurzfassung meines Sonderseminars „Psychiatrische Krankheitslehre“ in etwa 3 Minuten:

Ich habe eingangs schon erkennen lassen, dass es mangelnde innere Reife ist, sozusagen ein auf dem kindlichen Funktionieren Stehen-Geblieben-Sein, das zum Krieg führt. Es handelt sich dabei um eine Software-Störung, die auch Sigmung Freud erkannt und beschrieben hat, wenn er sagte, dass die Neurosenkranke, die er beschrieben habe, doch alle einen gewissen infantilen Zug aufwiesen. Jetzt sehe ich das so und verdeutliche das gern an einem Beispiel: Wenn ich mit dem Auto von Punkt A nach Punkt B fahren will, hat das in meiner Sicht zwei Erfordernisse:

a)        dass ich den Weg weiß und

b)        dass ich im Tank genügend Benzin habe.

Voraussetzung a) ist die Software-Störung über die ich bisher gesprochen hatte. Erfordernis b) ist noch nicht angeklungen. Das ist die Hardware-Störung, von der es im Rahmen der seelischen Krankheit nur drei Arten gibt, die ich eben vorstellen möchte.

 

1.)       Schiff auf hoher See, dem gerade der Treibstoff ausgegangen ist – es kommt

            halt nicht mehr voran und steuern kann man es auch nicht mehr.

            Das ist die Depression.

 

2.)       Schiff auf hoher See: Leider ist die Schiffsschraube hinten abgebrochen und unauffindbar auf dem Meeresgrund. Resultat für das Schiff: Das gleiche. Auch       dieses Schiff kommt nicht mehr voran und man kann es nicht mehr steuern.   Der Motor dreht aber wie verrückt –

            Das sind die Angstzustände.

 

3.)       Schiff auf hoher See: Leider sind Löcher im Rumpf und das Wasser strömt

            von außen nach innen. Das ist so lange erträglich, wie die Pumpen das            Wasser schneller hinausbefördern als es von außen hereinläuft. Aber wehe

            wenn umgekehrt! Dann säuft der Pott ab. Es handelt sich hier also nicht um

            eine Störung des Antriebs oder des Vortriebs sondern der Grenze, der Grenze

            von außen nach innen oder umgekehrt. Und das ist synonym für die

            schizophrene Psychose.

 

Logischerweise werden Software-Störungen mit Psychotherapie behandelt und Hardware-Störungen mit Pharmakotherapie. Wo ist der Zusammenhang mit unserem Thema? Ganz einfach: Jeder so Erkrankte verliert damit automatisch sein Sein und seine Eigenschaft als Gebender und wird zum Nehmenden. Der Antriebs- oder Energiekranke wird für viele Monate oder Jahre seines Lebens krank geschrieben, allein die Depression macht derzeit bei der TKK 17 % aller Krankschreibungen aus und bei den Rentenversicherungsanstalten 34 % aller vorzeitigen Berentungen. Immer handelt es sich um das Phänomen, dass so jemand aufhört, seine Arbeitskraft und seine Leistung zu geben und stattdessen einer wird, der von der großen Mutter Rentenanstalt oder vom Vater Staat die Alimentation nehmen möchte. Noch schlimmer ist es bei den schizophren Erkrankten, also bei denen mit der Störung

ihrer Ich-Grenze, bei denen sekundär auch die Energie in Mitleidenschaft gerät (denn die Pumpen fressen zu viel von dieser Energie): von denen sind nach Beginn ihrer

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Erkrankung nur noch 10 % erwerbstätig und muß von den Volksgemeinschaft durchgezogen werden hinsichtlich Lebensunterhalt, Behandlung und aller Versorgung. Die Schizophrenie ist neben der Zuckerkrankheit und den Krebserkrankungen einer der teuersten Volkserkrankungen überhaupt. Wiederum erkennen wir eine Störung des Nehmens und Gebens. Dieses Mal führt diese Störung nicht zum Krieg, weil die Krankenrolle davon ausgenommen ist. Diese muß aber erst mal durch viele juristische Instanzen erkämpft werden, nachdem ja jeder Rentenantrag aus medizinischen Gründen zunächst mal von den Zahlungsträgern abgeschmettert wird.

 

Ich fasse zusammen:

Ob ich Krieg mache oder Frieden, hängt davon ab, ob ich ein Nehmen wollender geblieben bin oder ob ich mich zum Geben wollenden weiterentwickeln konnte? Und hängt davon ab, ob es mir gelungen ist, die Berechtigung meiner berechtigten Erwartungen auf eine funktionale oder auch produktive Weise einzuregulieren – d. h. zu entscheiden, welche berechtigten Erwartungen ich nun wirklich mit Nachdruck einfordern möchte und welche nicht. Davon hängt ab, ob ich ein überwiegend Hassender bin oder ein überwiegend Liebender? Und ich glaube, es war Wilhelm Busch, der formulierte:

 

„Hass als minus und vergebens

wird vom Leben abgeschrieben.

Positiv im Buch des Lebens

steht verzeichnet nur das Lieben.

 

Ob ein minus oder plus

uns verblieben – zeigt der Schluss.“