PSYCHODRAMA-INSTITUT
MÜNSTER e.V.
Münsteraner Psychodrama-Tage in Coesfeld-
November 2008
Referent:
Dr.med.
Hans Heinrich vom Brocke
Thema:
Haben wollen oder Geben wollen – Krieg oder
Frieden
Liebe Anwesende,
die Ihr hier Eurer Wesen treibt – gemäß dem Wort von
Angelus Silesius : (Zitat)
„Mensch werde wesentlich,
denn der
Leib, der vergeht,
das Wesen
besteht!“ (Zitat Ende).
In dem Sinne noch mal: Liebe Anwesende. Da ist
zunächst unser Thema: „Nehmen wollen oder Geben
wollen - Krieg oder Frieden?“ In leichter Abwandlung
des übergreifenden Tagungsthemas Krieg und Frieden .
Geht beides miteinander und nebeneinander? Oder
schließt das Eine das Andere aus? Schließt Krieg den
Frieden aus oder umgekehrt? So sind wir schon mitten
im Nachdenken! Denn genau genommen ist diese Frage
von großer Brisanz! Und meine erste, vorläufige
Antwort: Wenn Krieg und Frieden gleichzeitig
bestehen können, ist das Ganze vielleicht lebbar.
Wenn nur der eine Zustand oder der andere möglich
ist, bedeutet das den Untergang der einen Partei,
der Gemeinsamkeit – auf alle Fälle der bisherigen
Lebenssituation. Bevor
ich diese Gedanken weiterspinne, möchte ich
mich doch eben selber vorstellen aus der Vermutung
heraus, dass ich vielleicht nicht allen von Euch
bekannt bin – und allenfalls als eher unsichtbare,
graue Eminenz. Ich bin Heiner vom Brocke. In meiner
Geburtsurkunde steht statt Heiner allerdings
Hans-Heinrich. Die Gründe für dieses Durcheinander
lasse ich hier weg. Ich gehöre dem
Psychodrama-Institut von Anfang an an. d. h. seit
1975. Ein Jahr später eröffnete ich die eigene
neuropsychiatrische Praxis in Wuppertal, die ich als
Kassenpraxis in fünf Monaten an meinen Nachfolger
weitergeben möchte. Ich bin inzwischen in dritter
Ehe verheiratet.
Meine erste Begegnung mit dem Psychodrama war im Mai
1971 auf der Jahrestagung der American Psychiatric
Association im Rahmen meiner dreijährigen
Psychiaterausbildung in den USA. Zerka Moreno
leitete damals eine Kennenlernsitzung mit 400
Teilnehmern. 6 Wochen später hatte ich mein erstes
Trainingswochenende im Moreno-Institut in
Beacon, New York.
Noch ein Wort, weshalb ich die Einladung zu diesem
Vortrag angenommen habe? Denn vieles, das zu sagen
ich im Sinn habe, ist sicherlich bekannt, vielleicht
banal oder selbstverständlich. Aber es ist eben der
Heiner vom Brocke, der Euch sagt, wie er bezogen auf
dieses Thema das Leben sieht und sein Leben sieht.
Und die Frage
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ist an Euch, ob jede oder jeder von Euch das genauso
sieht? Oder doch ganz anders?
Aber jetzt zu unserem Thema: Beide Aspekte, nämlich
Krieg und Frieden oder Krieg oder Frieden werden
immer wieder aufleuchten. Der amerikanische
Autohersteller Henry Ford sagte mal folgendes:
(Zitat) „Das Leben ist ein ewiges Wechselspiel aus n
e h m e n und
b e h a l t
e n.“ (Zitat Ende).
Der Gedanke von Henry Ford ist eigentlich
merkwürdig: Nehmen und behalten ist doch fast
dasselbe! Das erste ist der Vorgang, das zweite der
daraus resultierende Zustand. Wo ist das
Wechselspiel? Und vor allem: Wo ist das
Geben-wollen? Ich
fürchte, dass da ein Teil der Weltsicht und
des Pessimismus von Ford durchschimmert nach dem
Motto: Es gibt nur ein Raffen und Konsumieren analog
einem großen europäischen Geist, der das so
formulierte „Erst kommt das Fressen, dann kommt die
Moral.“ Ich widerspreche Herrn Ford. Ich meine, das
Leben sei ein ewiges Wechselspiel aus Habenwollen,
also nehmen, oder Gebenwollen. Dieses Wechselspiel
formuliert der große Psychologe
Erich Fromm etwas anders, wenn er sein
wichtiges Buch überschreibt: „Haben
oder Sein –Die seelischen Grundlagen einer
neuen Gesellschaft.“ (Ein sehr lesenswertes Buch –
ein Buch, das, meine ich, zur Pflichtlektüre eines
jeden denkenden Menschen gehört!) Es berührt mich
atmosphärisch durchaus, dass der erklärende
Untertitel „Die seelischen Grundlagen einer neuen
Gesellschaft“ eigentlich auch von Moreno hätte
stammen können. Dessen Soziometrie „Who shall
survive?“ zielt in dieselbe Richtung. Es bestehen
schon große Ähnlichkeiten zwischen beiden Konzepten.
Denn Nehmenwollen oder Habenwollen kann jeder. Das
bedarf keiner besonderen Identität. Es geht schon
los mit dem Hungergeschrei des Säuglings, der
verkündet: Ich bin hungrig, ich will etwas haben.
Ohne zu leugnen, dass auch der Säugling bereits
etwas geben kann, was spätestens mit seinem Lächeln
losgeht. Das eigentlichen Geben ist daran gebunden,
dass der Gebende jemand geworden ist, der geben
kann.Wenn ein Kunde, dessen Auto nicht mehr fahren
will, einen Helfer für sein Auto sucht, das muss das
jemand sein, der den Beruf des
Kraftfahrzeugmechanikers gelernt hat und –
wundersamer Weise –
ist er
plötzlich das, was er gelernt hat. Durch das, was er
gelernt hat, was er
genommen
hat an Unterrichtung, was er
genommen
hat an Fähigkeiten, hat sich sein Sein geändert, und
er ist zu jemandem
geworden,
der er vorher nicht war, nämlich ein Kfz-Mechaniker.
Und mit diesem neuen Sein kann er auch geben. Wäre
er Bäcker geworden
oder vielleicht Hippie oder
einfach Analphabet geblieben, hätte er dem
Kunden mit dem kaputten Auto die gewünschte Hilfe
nicht geben können. Es sind also auch das Sein eines
Menschen, wie er geworden ist, und die Fähigkeit zum
Geben aneinander gekoppelt.
Das heißt, ich kann nur geben, wenn ich vorher etwas
genommen habe. Und in der Regel gebe ich nicht genau
das weiter, was ich genommen habe, sondern durch das
Nehmen bin ich jemand geworden, der überhaupt geben
kann.
Wenn man also in der Lebensgeschichte ( oder
Leidensgeschichte) eines Menschen entdeckt, das
seine Wünsche des Nehmens viel zu wenig erfüllt
wurden, weder in der Vergangenheit noch in der
Gegenwart, darf man darauf schließen, dass der
Reifungsprozess, dass das Erwachsenwerden nicht
recht gelungen ist. Und damit bin
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ich bei einem diagnostischen Prinzip der
psychologischen oder psychiatrischen
Software-Störungen, das als
Passepartout
alle Neurosen verständlich beschreibt und damit
die ersten Hinweise für eine funktionierende
Psychotherapie liefert, nämlich die psychologischen
Altersdiagnose. Wie alt ist ein Mensch innen drin
entsprechend seinen Erwartungen des Nehmens (und
entsprechend seiner Reifungs-entsprechenden
Funktionshöhe) im Gegensatz vielleicht zu seinem
tatsächlichen, chronologischen Alter? Ich will das
an einem Beispiel deutlich machen: In einem
Altenheim behandelte ich zunächst eine 78 Jahre alte
endogen-depressive Patientin (endogen soll heißen:
Hardware-Störung), die zusammen wohnte mit ihrer 68
Jahre alten neurotisch depressiven Schwester. Diese
Schwester sagte über sich folgendes: (Zitat) „Das
Heimweh nach Zuhause wird immer größer!““ (Zitat
Ende). Jetzt wusste ich aus ihrer Lebensgeschichte,
dass die besagte jüngere Schwester mit 18 Jahren ihr
Elternhaus verlassen hatte. Jetzt fing ich an
nachzudenken: In welchem Alter ist das Heimweh
eigentlich normal? Wo gehört es
normalerweise hin? In welches Reifestadium? Und da meine ich doch,
irgendwo in die Reife zwischen 4 und 14 Jahren.
Nehmen wir mal als ungenaues arithmetisches Mittel:
Im Durchschnitt mit 8 Jahren. Also wusste ich, die
vor mir sitzende Frau ist innerlich in irgendeinem
Winkel ihres Herzens 8 Jahre alt – äußerlich ist sie
bereits 68. Daraus folgte,
was ich
therapeutisch zu tun hatte: Ich brauchte bloß flugs
aus der immer noch 8jährigen eine 68jährige reifen
zu lassen. Und ich hätte gewonnen! Eine solche
therapeutische Potenz hätte mich allerdings in die
Nähe des allmächtigen Gottes gerückt. Und in diese
Nähe fühle ich mich gar nicht gehörig. Konsequenz:
Ich habe dieses therapeutische Ziel mit der
Patientin nicht angestrebt sondern habe den Auftrag
angenommen, der zur geringen, vorübergehenden
Leidensminderung geeignet erschien, nämlich den
Auftrag: Herr Doktor, seien sie mir eine gute Mutter
und ein guter Vater! Die Frau hatte wenig zu geben.
Sie hatte ein dringendes Bedürfnis, zu nehmen.
Erfolgreicher war da schon die Psychotherapie meiner
dritten Lehrpatientin während meiner Ausbildung.
Diese damals 23 Jahre junge Frau hatte in ihrem
Reifungsprozess Verzögerungen erlitten, die zu
Ängsten und Depressionen und auch zu
Funktionsstörungen führten auf dem Boden eines zu
frühen Rollentausches vom kindlichen Funktionieren
zum erwachsenen Funktionieren. Sie hatte
beispielsweise beschrieben, dass sie als Neunjährige
von der Schule nach Hause gekommen war und dort ihre
sturzbesoffene Mutter auf einem Stuhl schlafend
vorgefunden hatte mit einer noch brennenden
Zigarette in der Hand. Das Mädchen habe der Mutter
erst mal die Zigarette aus der Hand genommen und
diese gelöscht, dann eine Decke genommen und um die
Mutter herumgeschlungen, so dass diese nicht friere.
Und dann sei sie bei der Treppe jede zweite Stufe
betretend im Haus
nach oben gegangen – und zwar immer auf der Stufe,
die nicht knarrte. Hätte sie durch das Knarren die
Mutter geweckt, wäre die vielleicht böse geworden
und hätte ihr rechts und links eine runtergehauen.
Psychodynamik: Das Kind hat so wenig als Kind
bekommen, dass sein Reifungsprozess dadurch gestört
war. Dass er in der Psychotherapie doch gelungen
ist, zeigte eine ihrer Äußerungen in der letzten
Sitzung. Sie sagte: Früher kam ich mir so vor, als
würde auf dem Weg zur Arbeit an einer Stelle jemand
stehen, der mir
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jedes Mal einen Schlag auf den Kopf versetzt. Durch
die Arbeit hier bin ich darauf gekommen, dass ich ja
auch einen anderen Weg nehmen konnte!
Übrigens sprach die junge Frau im Rahmen der
Alkoholkrankheit ihrer Mutter niemals vom Alkohol,
vom Wein, vom Stoff oder wie man das immer hätte
bezeichnen können sondern immer von „der Flasche“.
Und als ich im Rahmen der therapeutischen Arbeit
immer mit der Flasche konfrontiert wurde, dämmerte
es mir plötzlich, dass das eben genannte
psychodynamische Gesetz doch auch hier anwendbar
wäre: Es gibt doch im Leben eines Menschen eine
Phase, da ist die Flasche völlig normal und
keinerlei Hinweis für eine Krankheit! Gemeint ist
das Lebensstadium eines Einjährigen, der sein
Fläschchen bekommt. Seither habe ich mir angewöhnt,
die Alkoholkranken zu sehen als Menschen, die in
irgendeinem Winkel ihres Herzens leider nicht älter
als 1 Jahr geworden sind und immer noch an der
Flasche hängen. Ich hatte die Phantasie, in meinem
Wartezimmer ein Wandbord anzubringen mit einer
Milchflasche darauf mit Sauger, einer Limoflasche
mit Sauger, einer Bierflasche mit Sauger und einer
Schnapsflasche mit Sauger. Aber dann habe ich diesen
Gedanken verworfen, weil ich gewahr wurde, dass ich
den Patienten vor sich und seinen Angehörigen viel
zu schnell und viel zu ungefragt entblößen würde!
Denn die Botschaft, dass es immer die selbe Flasche
ist, nur mit etwas anderem Inhalt, wäre zu deutlich
gewesen! Warum sag ich das hier? Um das Prinzip klar
zu machen, um das es geht!
Ich denke an die 60-jährige Frau, die in mehreren
langen Sitzungen mir klar machte, wie sehr sie unter
der alle Kinder beherrschenden Mutter gelitten
hatte. Wie sehr die Mutter mit ihren selbstsüchtigen
Anforderungen und Befehlen ihr das Leben schwer
gemacht hatte. Die selbe Frau berichtet dann unter
Zornestränen, dass die Mutter sie aber an ihrem 60.
Geburtstag nicht angerufen habe! Ich muß sehr
verdattert dreingeguckt haben, als sie das sagte,
denn die Patientin hat das Thema in Zukunft nie
wieder angesprochen. Ich habe an der Stelle mich
auch sorgfältig jeden Kommentars enthalten. Denn
mein Kommentar wäre gewesen: Ein Glück, dass Sie
ihren 60. Geburtstag ungestört haben feiern dürfen!
Aber das war absolut nicht der Punkt, den die
Patientin machen wollte, eher das genaue Gegenteil!
Die selbe Patientin hat es übrigens fertig gebracht,
mich in einer Sitzung, die auf 50 Minuten begrenzt
war, auf 90 Minuten auszudehnen, obwohl ich das gar
nicht gewollt hatte! So viel Macht des Gespräches
und der darin unausgesprochenen berechtigten
Erwartungen hatte sie auf mich ausgeübt. Ich hatte
mir vorgenommen, ihr später zu interpretieren, wie
sie mit mir umgegangen war. Dazu hatte ich in den
eher spärlichen späteren Gesprächen keine
Gelegenheit mehr. Ich bin jetzt noch fassungslos,
wenn ich an so viel geballte Kleinkindhaftigkeit in
dieser erwachsenen Frau denke.
Da ist noch die stationäre Behandlung eines älteren,
dünnen Alkoholkranken, dessen erheblich
umfangreicher geratene Ehefrau mich als behandelnden
Arzt mal aufsuchte, um mir ihre Sicht der Dinge
darzutun. Sie schimpfte zunehmend lauter und viel
lauter, als ein Rohrspatz es könnte, dass ihr Mann
doch endlich mal seine Pflichten erfüllen solle,
regelmäßig zur Arbeit gehen, ihre berechtigten
Erwartungen zuhause erfüllen solle, den Alkohol
bleiben lassen solle, und was er sonst noch solle,
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solle, solle! Diese Schimpfkanonade, die mir klar
machen sollte, was sie als meine therapeutische
Aufgabe ansähe, ließ in mir den Gedanken aufkommen:
„Oh Gott, wenn ich mit der Frau verheiratet wäre,
würde ich auch zum Alkoholiker!“ Ich habe diesen
Gedanken aber nicht laut ausgesprochen. Es gibt
schließlich eine ärztliche Schweigepflicht.
Habt Ihr gehört, dass ich den Wünschen, etwas zu
nehmen, bzw. den Erwartungen ein Suffix angefügt
habe, nämlich die Hinzufügung BERECHTIGT!?
Inzwischen habe ich mir angewöhnt, das Wort
Erwartungen nie mehr solo, nie mehr nackig zu
benutzen sondern immer mit dem Beiwort „berechtigt.
Ich spreche also immer von den „berechtigten“
Erwartungen.. Denn ich bin noch nie jemandem
begegnet, der seine Erwartungen für unberechtigt
gehalten hätte.
Aber jetzt kommen wir zu einem wichtigen Punkt: Wenn
Erwartungen ohne dieses Beiwort, also sagen wir
Wünsche, Sehnsüchte, nicht erfüllt werden, dann ist
die Reaktion Trauer, vielleicht Resignation. Wenn
aber unsere berechtigten, berechtigten Erwartungen
nicht erfüllt werden, dann ist die Reaktion anders,
nämlich Zorn, Ärger! Und ich kenne vielfältige
Formen der Ärger-Vergiftungskrankheit! Ich kenne
fast keine Trauer-Vergiftungskrankheit. Und in die
Ärger-Vergiftungskrankheit zu gehen, ist ein Weg.
Nach MORENO gibt es in einer Konfliktsituation immer
mehrere Lösungen. Er hatte die Mindestzahl 10, die
er suchen wollte, um dann seinem Patienten zu
überlassen welche von diesen 10 Lösungen der Patient
wählte: Welche möchten Sie? frage ich dann meinen
Gegenüber.
Statt mich körperlich oder seelisch zu vergiften
getreu nach dem so salopp dahin gesagten Satz: „Ich
ärgere mich“ (also 2 Personen: Der Ärgerer und das
arme Opfer, das geärgert wird), kann ich ja auch
meinen Gegenüber ärgern, diesen vergiften oder
unsere Beziehung vergiften. Und damit bin ich
zentral bei meinem Thema: Wenn ich
„berechtigterweise“, „berechtigterweise“ etwas
nehmen möchte und nicht kriege, dann mache ich
Krieg! Dann ist Schluss mit lustig, Schluss mit
Frieden! Die Frage, ob ich Krieg oder Frieden mache,
Unglück oder Glück, Hass oder Liebe, hängt also
davon ab, wie weit ich ein Nehmenwollender bin oder
wie weit es mir gelungen ist, ein Gebenwollender zu
werden? Und wie weit in meiner Position als
Nehmenwollender ich von der Berechtigtheit meiner
Berechtigung überzeugt bin und wie weit ich auf die
Berechtigtheit meiner Berechtigung poche. Dazu ein
literarisches Beispiel aus „Gottesbegegnung am
wunden Punkt “Hanne Baar und Jana Herzberg:
Eigentlich will ich nur in Ruhe gelassen werden und
hier liegen und weinen, bis meine Mami zu mir kommt.
Du sollst zu mir kommen!
Schreien, bis du aufwachst? Schreien, bis die Wände
wackeln und dir das Trommelfell platzt?
Ich habe keinen Einfluss darauf, ob die Mutter kommt
oder nicht.
Ich kann nicht das geringste tun.
Wie kann ich dich nur in die Knie zwingen?
Ich habe in völliger Hilflosigkeit und Bedürftigkeit
um Hilfe geschrien, habe umsonst gebeten und meine
Not gezeigt – habe mich quasi nackt ausgezogen und
bin auf die Knie gegangen – alles umsonst.
Diese Demütigung nehme ich auf den Tod übel. Diese
Kränkung vergebe ich nicht.
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Mörderische Wut!
Ich will Gerechtigkeit! Ich will, dass mir jemand
Recht gibt, dass ich den Wunsch nach
Geborgenheit haben darf. Ich will, dass
festgestellt wird, dass ich nicht bekommen habe, was
mir zugestanden hätte. Ich will mich nicht nur
abfinden mit dem Gedanken, ich verlange zu viel.
Es hätte mir zugestanden, als Baby versorgt zu
werden, Nähe, Geborgenheit, Wärme, Milch,
Verlässlichkeit, eine gute MAMA.
Das hätte mir zugestanden.
Gerechtigkeit!!!
Einer muß Schuld sein! (jemand anderes als ich).
Ich habe Angst, dass am Ende ich die
Angeschmierte bin, wenn ich erwachsen werde und
vergebe, loslasse. Ich gebe meine Ansprüche auf, und
was ich kriege, sind Seifenblasen. Und ich stehe
wieder mit leeren Händen da. Reingelegt!
Gott, ich bin es Leid, wie mein Leben heute
vergiftet wird aus meiner Vergangenheit. Ich habe es
satt!
Hörst du mich!!
I c h
h a b e
e s
s a t t ! ! !
Ich will doch einfach nur normal leben!
Ich fürchte, dass der Wunsch dieser jungen Frau,
einfach nur normal zu leben, und ihre Entscheidung,
auf dem Recht ihrer nicht erfüllten, berechtigten
Erwartungen zu bestehen, sich gegenseitig
ausschließen.
Wie sagt doch der jüdische Philosoph Bernhard BARUCH
(Zitat): „Ein Geheimnis eines langen, erfüllten
Lebens ist,
jedermann alles zu vergeben, bevor man zu Bett geht,
auch sich selbst!“ (Zitat Ende).
Die junge Frau macht übrigens deutlich, dass sie
grundsätzlich eine Freudeverwertungsfähigkeit hat.
Lasst doch mal folgenden Text gemütshaft auf Euch
wirken:
Bis einer kommt und
mich weckt, einer, der mit
meinem Körper umgeht
wie mit einem kostbaren
Instrument, der ihn
kennt und vertraut ist
damit, der mich darüber
staunen lässt, der eine
schöne Melodie erklingen
lässt, die ich noch nie
gehört habe.
Einer, der meine Seele
und meinen Körper
sanft aufweckt, vor dem
ich keine Angst habe,
der mir geschickt nah-
kommt.
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Wenn eine Frau eine so schöne, zarte Poesie zustande
bekommt, wenn sie also eine Wahrnehmung ausdrücken
kann, wie das Zwischenmenschliche auch sein könnte,
dann ist sie allemal kein Borderline-Mensch, dann
ist sie allemal nicht 100 %
innerlich kaputt! Aber es fällt doch auf, dass sie
von dem spricht, fast ausschließlich spricht, was
sie von ihrem Gegenüber haben möchte. Ich erkenne
kein Wort darüber, was sie geben möchte! Aber doch
hat dieses „Haben wollen“ eine andere Qualität als
der frühere Text. Es fehlt der Hinweis auf die
Berechtigheit des berechtigten Anspruches, es fehlt
die Drohung für den Fall des Ausbleibens der
Erfüllung ihrer Wünsche und ich meine zwischen den
Zeilen zu lesen, dass da steht: Wenn mir das
passiert, könnte ich eine Andere werden als ich
bisher bin, nämlich eine Liebende und nicht nur eine
frustriert Hassende. Dass sie eine werden kann, die
den Frieden schön ausgestalten kann statt immer nur
Krieg machen zu müssen.
Bei der Aussage:
(Zitat): Ich
habe in völliger Hilflosigkeit und Bedürftigkeit um
Hilfe geschrien, habe umsonst gebeten und meine Not
gezeigt – alles umsonst! (Zitat Ende) kam mir
der Gedanke, dass die Autorin irrt, möglicherweise
sogar lügt. Denn sie war nicht völlig hilflos und
nicht völlig unbefriedigt bedürftig! Wäre sie das
gewesen, hätte sie nicht weiterleben können, wäre
längst tot
und hätte diesen Text nicht schreiben können.
Aus der Tatsache, dass sie als junge Frau noch am
Leben ist, folgere ich, dass sie ihre
Basisbedürfnisse nach Nahrung, Wärme, Schutz erfüllt
bekommen hat.
Berechtigte Erwartungen:
Ich denke an eine Frau in meinem sozialen Atem, die
mal sagte, dass es sie wahnsinnig mache, wenn ihr
Mann den Müll um-sortiere. Wahnsinnig soll in dem
Zusammenhang wohl heißen: Außer sich vor Zorn!
Wütend! Also wurden wieder „berechtigte“ Erwartungen
nicht erfüllt! Welche eigentlich? Ich überlasse Euch
die Antwort! – füge nur hinzu, dass ich häufig den
Müll umräume. Aber meine Frau sah noch nie einen
Anlass, darüber zu schimpfen.
Es soll auch Ehepaare geben, von denen der Eine die
Zahnpastatube quer ausdrückt, der andere aber von
hinten. Das gibt bitteren Streit, denn die
„berechtigten“ Erwartungen werden nicht erfüllt,
dass der eine sich so verhalte wie der Andere.
Psychodynamik: Ich habe an Dich die
„berechtigte“
Erwartung, dass Du so bist wie ich! (Wie in My fair
Lady: Warum kann eine Frau nicht so sein wie ein
Mann?)
Meine Gedanken gehen noch einmal zu einem privaten
Kriegsschauplatz, nämlich dem der Ehe. Ich pflege
meinen in dem Bereich leidenden Patienten zu
erläutern, dass es in meiner Sicht grundsätzlich
zwei Arten von Ehen oder eben menschlichen
Beziehungen gäbe: Solche des Nehmens und solche des
Gebens, solche aus Mangel und solche aus Überfluss.
Bei der aus Mangel sagt Partner A zu Partner B: Mir
fehlt etwas und du hast es: Gibst du es mir?
Partner B antwortet: Ja, gern! Dann geht es dir ja
auch besser. Weißt Du, mir fehlt auch etwas, etwas
anderes, was du hast. Gibst du es mir? Zu Anfang
einer solchen Beziehung sagt das Gegenüber in der
Regel auch ja.
Die Beziehung aus Überfluss ist anders strukturiert.
Hier sagt Partner A zu Partner B: Mir fehlt
überhaupt nichts. Ich bin in mir und mit mir
glücklich. In der Tat: Ich habe
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zuviel, ich habe Überfluss, mehr als ich brauche.
Magst du was davon? Nimmst Du’s? Und Partner B würde
antworten: Ja, gern. Mein Leben wird damit reicher.
Übrigens: Mir geht es auch so. Was du mir gibst,
macht mein Leben schöner, wertvoller, aber ich
könnte auch ohne. Und in der Tat habe ich mehr als
ich brauche. Von dem, was ich mehr habe: Nimmst
du’s?
Wenn ich genau hinschaue, erscheint mir die Ehe aus
Mangel eine ganz typische und gesetzlich auch so
definierte Handelsbeziehung. Es ist eigentlich, wie
wenn ich an einem Samstagmorgen in den Bäckerladen
gehe und sage: Ich würde gerne mit Brötchen
frühstücken, habe aber keines. Geben sie mir welche?
Ja gern, antwortet
die Verkäuferin, 2,73 € bitte. Das ist natürlich
jetzt seitens der Verkäuferin eine berechtigte
Erwartung. Wird sie nicht erfüllt, kommt Ärger auf.
So ist es in den Ehen aus Mangel eben auch. Wenn in
der Beziehung des Haben-Wollens etwas nicht nach der
Vorstellung der berechtigten Erwartungen geht, haben
wir Krieg. Ein solcher ist in den Beziehungen aus
Überfluss gar nicht möglich! Wenn ich mir die Klagen
meiner PatientInnen, seltener auch meiner Patienten
anhöre darüber, wie wenig der Partner die
berechtigten Erwartungen erfüllt!, weiß ich gleich,
mit welcher Beziehungsstruktur ich es zu tun habe.
Jedes Mal muß ich neu entscheiden, ob ich meinem
Gegenüber diese Überlegungen sage oder nicht. Und
diese Entscheidung hängt wiederum sehr an dem
Auftrag, den ich erhalte oder den ich mit etwas Mühe
herausarbeite. Wenn der lautet: „Machen sie, Doktor,
dass mein Mann sich ändert von einem, der meine
berechtigten Erwartungen nicht erfüllt zu einem, der
sie doch erfüllt, dann bin ich wieder in der
eigentlich peinlichen Situation, zu entscheiden, wie
weit ich meinem Gegenüber verständlich machen
möchte, dass dieser Wunsch grundsätzlich unerfüllbar
ist. Manchmal entgegne ich, dass in meiner
Lebenserfahrung der Wunsch, den anderen zu ändern,
in aller Regel drei Konsequenzen zur Folge hat: Die
erste ist Leid, die zweite ist Leid und die dritte
ist immer noch Leid
-
und zwar bei allen Betroffenen, bei dem der sich
ändern soll und bei dem, der diese Änderung fordert.
Ich erinnere mich an das Psychodrama in meiner
Ausbildungszeit von James Enneis, dem
Psychodramaleiter aus Washington während einer der
Weiterbildungstagungen. In den sorgfältig
gestalteten Anwärmszenen beschrieb die
Protagonistin, vielleicht 35 Jahre alt, in lebhaft
Mitleid heischender Weise, wie alle ihre berechtigen
Erwartungen an den Ehemann nach mehr Zeit, mehr
emotionaler Zuwendung, mehr Reden u. s. w. nicht
erfüllt wurde. Den weiteren Gang und das Ende dieses
vor 36 Jahren erlebten Psychodramas kann ich mich
nicht mehr erinnern, wohl aber an die Ausführungen
des Leiters in der Prozessanalyse: Er wies darauf
hin, dass bei all den Mängeln und Versagungen durch
den Ehemann die Frau ja doch auch Vorteile von ihm
hätte: Die finanzielle Versorgung, den
gesellschaftlichen Status – an diese beiden items
erinnere ich mich jetzt noch. Wieder haben wir das
Gezerre von
Nehmenwollen, Habenwollen, mündend in ehelicher
Unzufriedenheit und sicherlich irgendwann in der
Zerstörung der ganzen Beziehung. Ich glaube, damals
fing ich an, ein Gespür für das Nehmenwollen und für
die Berechtigtheit dabei zu entwickeln.
Ob es eine Beziehung des Nehmenwollens oder des
Gebenwollens ist, beschreibt die Autorin Esther
Vilar in ihrem Buch:
„Das polygame Geschlecht“ folgendermaßen: Man stelle
sich ein Filmdrehbuch vor, dass folgende Szene
enthält:
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Sonne, Meer, einsamer Strand, ein Mann und eine
Frau:
Der Mann:
Liebling, du bist so still. Was hast du?
Die Frau:
Nichts.
Der Mann:
Sag schon
Die Frau:
Ich weiß nicht, wie ich es dir beibringen
soll.
Der Mann:
Wie du mir
was
beibringen sollst?
(Pause)
Die Frau:
Ich möchte dich verlassen.
Der Mann:
Du hast einen anderen?
Die Frau:
Ja
Der Mann:
Bist du sicher, dass du ihn liebst?
Die Frau:
Ja
Der Mann:
Mehr als mich?
Die Frau:
Ich kann ohne ihn nicht mehr leben.
Der Mann:
(legt den Arm um sie): Wunderbar.
Die Frau:
Wie bitte?
Der Mann:
Ich sage „wunderbar“ nimm ihn dir.
Die Frau:
Du freust dich?
Der Mann:
Warum sollte ich mich nicht freuen?
Die Frau:
Du liebst mich also nicht mehr?
Der Mann:
Im Gegenteil.
Die Frau:
Du liebst mich?
Der Mann:
Ich liebe dich, ich will, dass du glücklich
bist. Erwartest du etwas
anderes?
Spätestens an dieser Stelle greift der Produzent,
der das Drehbuch gerade liest, zum Telefon und
verlang nach dem Autor. Er fragt ihn, ob er den
Verstand verloren habe: Er habe doch ausdrücklich
eine Liebesszene bestellt, aber das sei doch nie im
Leben eine Liebesszene. In einer
echten
Liebesszene müsse der Mann hier seiner Frau den
Schädel einschlagen oder wenigstens so tun. Darauf
müsse er in den Wagen springen, mit heulenden Reifen
davonfahren und seinen Rivalen verprügeln.
Doch der Autor findet sich nur widerwillig zu einer
Änderung breit: Ein Mann, der seine Frau wirklich
liebt, sagt er, verhalte sich so und nicht anders.
Wahre Liebe sei in erster Linie selbstlos.
Würde der Produzent sich auf weitere Diskussionen
einlassen, käme dabei vermutlich heraus, dass es
zwischen Mann und Frau zwei verschiedene Arten von
Liebe geben müsse: eine verzeihende und ein
rächende, eine opferwillige und eine
besitzergreifende, eine gebende und eine
nehmende.....(Zitat Ende)
Hoppla! Es fällt doch auf, dass die Autorin Vilar am
Schluss ihrer Ausführungen genau bei unserem Thema
landet: Eine Gebende und eine Nehmende... Stimmt das
so? Sollten unsere zwischenmenschlichen Beziehungen
und unsere Ehen so strukturiert sein? Sind wirklich
die Beziehungen aus Nehmen ausschließlich ein
Hinweis auf Unreife, kindlich gebliebene
Partnerinnen und Partner? Oder sind hier nicht auch
biologische Prozesse am Werk, die das Besitztum
hüten? Wir wissen doch, dass ein Löwe, der sich eine
neue Partnerin erwählt hat, erstmal deren bisherige
Jungen tot beißt, damit sein eigener Nachwuchs die
größere Chancen habe? Wie viel Nehmen wollen und wie
viel Geben wollen gehört zu einer guten,
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einer erfolgreichen oder einer sehr moralischen
Beziehung? Ich stelle fest, dass ich als 67-jähriger
an der Stelle immer noch offene Fragen habe. Und ich
lasse die Fragen hier stehen ohne eine Antwort zu
formulieren.
In dem Text von Frau Vilar wird noch etwas Weiteres
offensichtlich. Nämlich das Phänomen der
„Nicht-zueinander-Sprechbarkeit“. Dieser Begriff ist
entsetzlich hölzern und vielleicht sollte ich
einfach davon sprechen, dass zwei Menschen sich
einfach nicht verstehen können. Das trifft
sicherlich für den Autor und den Produzenten in Frau
Vilars Text zu. Das trifft für alle ehelichen
Partner zu, von denen der eine die sexuelle Treue
voraussetzt und natürlich auch fordert i. S. eines
Alleinverfügungsrechtes über die Sexualität des
Anderen (es handelt sich um eine Form des Nehmens!)
analog dem Alleinvertretungsanspruch der
Bundesrepublik zu Zeiten, als es noch eine DDR gab,
gegenüber dem Partner, der seine Sexualität mit
Mehreren leben möchte. (Das trifft nicht zu für eine
Ehe, in der beide Seiten die sexuelle
Ausschließlichkeit gegenseitig schenken möchten
-
ein Phänomen des Gebens!).
Dieses Phänomen, dass zwei Menschen sich einfach
nicht verstehen können, finden wir aber auch, wenn
Darwinisten mit den unmittelbar bibelgläubigen
Christen sprechen, die an die Evolutionstheorie des
biologischen Werdens glauben, , die davon ausgehen,
dass so Theorien wie Urknall oder Evolution höchst
unchristlich seien und dass die Welt in 6 Tagen
erschaffen worden ist, davon am 1. Tag die Trennung
von Licht und Finsternis. In Amerika ist dieses
Phänomen häufiger anzutreffen als in Europa. Ich
habe mir von Strömungen sagen lassen, dass per
Gesetz verboten werden solle, in den Schulen das
Evolutionsmodel zu unterrichten und dass nur das
wortwörtlich bibelgetreue Model unterrichtet werden
dürfe.
Eine merkwürdige, dabei aber höchst erfolgreiche
Mischung von Friedensbewegung und kriegerischer
Taktik kennzeichnet das Vorgehen der Organisation
Greenpeace Rex Weyler, jetzt 60 Jahre alt, war einer
der Gründer der Greenpeace-Bewegung, dem es gelang,
den Rücken eines Wals zu fotografieren, in dem eine
tödliche Harpune steckte. Damit hatte er die
emotionsgeladenen Fotos, die als Beweisstücke in
einem weltweiten Krieg dienten. Munition für
„Mindbombs„, die in den Köpfen der Zeitungsleser und
der Fernsehzuschauer zünden sollten. Der Begriff
„Gedankenbombe“ stammt von Bob Hunter, dem
visionären Kopf der frühen Greenpeace-Bewegung. Wie
ist es Greenpeace gelungen, ihr Anliegen
einschließlich der Weißsagung der Cree-Indianer
unters Volk zu bringen? „Am
Ende werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen
kann!?“ Antwort: Indem er die Regeln der
Kriegführung für die Organisation von Greenpeace und
für die Ausbreitung ihrer Ideen verwendeten. Ich
zitiere aus einem Artikel der „Welt am Sonntag“ Nr.
13 vom
en Kommunikationselementen bedient werden müssen. Im
Idealfall gleicht eine Kampagne einem Räderwerk, bei
dem die verschiedenen Elemente und Aktivitäten
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wie Zahnräder ineinandergreifen und sich
wechselseitig verstärken. Wie Heeresteile bei einem
Feldzug.
Die zentrale Bedeutung strategischen Denkens wird
inzwischen in renommierten Wirtschaftshochschulen
gelehrt. Auch hier wird die militärische Herkunft
nicht geleugnet: Carl von Clausewitz’ Theorien
stehen auf dem Lehrplan der Harvard Business School,
die Georgetown University in Washington hat ein
Studienfach Informationskrieg“, in Paris wurde
gleich eine ganze „Schule für den Wirtschaftskrieg“,
die Ecole de Guerre Economique, ins Leben gerufen.
Es ist ein Krieg der Bilder: Wer die besten
Headlines und Fotos bekommt, gewinnt!“ wusste Bob
Hunter vor 30 Jahren. Daran hat sich nichts
geändert. (Ende
des Zitats).
In meiner amerikanischen Zeit, also zwischen 1970
und 1972 las ich mal in der Zeitung eine
Leserzuschrift, die darauf abzielte, dass es
schließlich berechtigte Erwartungen gäbe! So sei es
doch für einen Geschäftsmann berechtigt, wenn er
Gewinne machen wolle! Und für einen General, dass er
siegen wolle! Aber wenn ein General seine
berechtigten Erwartungen, zu siegen, verfolgen kann:
Was passiert? Es sterben für den alten Mann (denn
Generäle sind ja nie jung) ganz viele junge Leute,
die des Gegners und die des eigenen Volkes. Die 6.
Armee des zweiten Weltkrieges gegen Russland war
300.000 Mann stark. Davon wurden im Lauf der
Kriegshandlungen totgemacht 210.000 (mein Vater mit
eingeschlossen, als ich ¾ Jahr alt war).
90.000 kamen in russische Gefangenschaft um, 6.000
kehrten zurück. Auf russischer Seite kamen 1.200.000
Rotarmisten um. Also starben alleine in diesem
Feldzug und in dieser Schlacht 1.500.000 junge Leute
für die berechtigten Erwartungen von Herrn Hitler,
Herrn Stalin und auch General Paulus, der
seinerseits ein gut versorgtes Weiterleben in
Dresden bis zu seinem seligen Ende – ich glaube es
war 1963 –
finanziert bekam. Für die berechtigen Erwartungen
der amerikanischen Administration im Irak-Krieg
haben 4.000 junge Amerikaner ihr Leben lassen
müssen. Und wir sind doch Zeuge, wie alle die von
mir jetzt genannten Regierungen der Welt ihre
Berechtigtheit vorweisen: Herr Bush sprach von den
friedensgefährlichen Lagern an Atomwaffen im Irak;
Herr Hitler gab den Tagesbefehl
aus, (Zitat):
Morgen um
Im 16. Jahrhundert tobte in Deutschland der
Bauernkrieg und der Theologe Müntzer stellte sich
auf die Seite der Bauern, Luther stellte sich auf
die Seite der Fürsten und schrieb seinen „Sendbrief
von dem harten Büchlein wider die Bauern“. Die
Schriften dieser beiden Prediger geraten in eine
Dynamik, die sehr an die moderne Form von
Gewaltverkettung erinnert: Der Bauernkrieg wird zu
einem Terrorismus der Armen gegen die Reichen und
der Fürstenkrieg wird zu einem Terrorismus der
Reichen gegen die Armen. Wie üblich, haben die
rebellierenden Armen verloren. Aber verloren hat
damals – wie auch überwiegend heute – zugleich der
Geist der
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Versöhnung und der Menschlichkeit. Damit schließt
sich der Kreis. Knapp 500 Jahre nach dem Bauernkrieg
haben wir – nunmehr im globalen Maßstab – eine ganz
ähnliche Konstellation. Wieder entspringt die Gewalt
einer eklatanten Ungleichheit, diesmal der Macht des
wohlhabenden Westens und der Ohnmacht der armen
islamischen Länder. Dieses Mal haben die Reichen
keinen Luther zur Seite sondern einen „Fürsten“, der
sich selbst als vom Himmel Berufener erklärt. Die
Armen auf der Gegenseite werden wiederum von
Gotteskriegern in die Schlacht geführt. Aber der
Gott des Attentäters Mohammed Ata trägt den Namen
Allah. Erneut haben die Mächtigen natürlich die
überlegenen Waffen und nennen die Aktion ihrer
Streitkräfte Krieg während die Rebellen aus dem
Hinterhalt auf terroristische Weise töten und
zerstören. Kurz: Wir kommen zu dem Schluss, dass der
gegeißelte Terrorismus nur die eigene
Herrschaftswillkür der Reichen – mit den Mitteln der
Schwachen – widerspiegelt. (so weit Gedanken, die
ich aus dem Buch „die Krise der Männlichkeit“ von
Horst-Eberhard Richter entnommen habe).
Ein fast skurriles Beispiel für die Vorliebe, die
Berechtigung der berechtigten Erwartungen religiös
zu untermauern, findet sich im Garten meiner
Urgroßeltern, den ich in den letzten 8 Jahren selber
bewohne bzw. selber nutze. Es findet sich darin ein
Totenmal für den Großonkel Hans-Heinrich Braun, der
in den letzten Tagen des ersten Weltkrieges noch bei
Dünkirchen ums Leben gekommen war (und nach dem ich
dann offiziell benannt wurde). In der im Stein
gemeißelten Inschrift heißt es: (Zitat) „Wer den Tod
im heilgen Kampfe fand, ruht auch in fremder Erde im
Vaterland“. (Zitat Ende). Warum erwähne ich das
alles hier? Weil ich deutlich machen möchte, welch
vielfältige, merkwürdige und immer wieder religiös
verbrämte Facetten diese Berechtigung der
„berechtigten“ Erwartungen hat – deren
Nichterfüllung dann zwangsläufig zum Krieg führen
In der Zeitschrift GEO vom September 2008 las ich
unter der Überschrift „Mama Maggy – der Engel. der
aus der Hölle kam“ die Beschreibungen der
Auseinandersetzungen zwischen den Hutu und Tutsi
im afrikanischen Land Burundi im Jahre 1994.
Da sie als Lehrerein sich weigerte, zwischen den
Kindern beider Volksstämme Unterschiede zu machen
und da sie beide gleichwertig behandeln und
unterrichten wollte, kam sie in erhebliche
Konflikte. (Zitat): „Sie haben mich auf einen Stuhl gefesselt und die Hutus der Reihe nach
vor meinen Auge mit Macheten in Stücke geschlagen.“
Juliette, eine mit einem Hutu verheiratete Tutsi,
legte Maggy ihr Baby Lydia auf den Schoss und
Juliettes dreijährige Tochter Lisette klammerte sich
an den Stuhl, an den Maggy gebunden war. „Juliette“,
erinnerte sich Maggy,
flehte mich
an: „zieh
unsere Kinder groß, dich werden sie nicht
umbringen!“ Jemand schlug ihr den Kopf ab und
warf ihn mir auf den Schoss. Der Mörder war mein
eigener Onkel.
Und tatsächlich wird Marguerite Barankitse wie durch
ein Wunder verschont. Als die Schlächter
verschwunden sind, kann sie sich freimachen von den
Fesseln. Sie beginnt, nach Überlebenden zu suchen.
In einem Schrank findet sie mehrere Kinder, zitternd
hinter der Robe des Bischofs. Und auf der Straße den
kleinen Piere-Clavère, an dessen Kopf die Wunden von
9 Machetenhieben klaffen.
Weitere Kinder kommen aus ihren Verstecken. 25 sind
es schließlich. Lauter übrig gebliebene, in deren
schreckensgeweiteten Augen und verständnislosen
Gesichtern
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Marguerite Barankitse ihre künftige Aufgabe
schicksalshaft zu erkennen glaubt: die Rettung
dieser kleinen Menschen.
Etwas weiter schreibt sie: Und Marguerite Barankitse
ist beiden Seiten suspekt: „Die
Tutsi sahen in mir eine Verräterin, die Hutu nur
eine Tutsi“, sagte sie. „und
für meine Kinder hatten alle nur Verachtung übrig“.
Jetzt übrigens, 14 Jahre nach dem Massaker: Lydia,
das Baby, jetzt 14 Jahre alt, will Journalistin
werden, Lisette, 17 Jahre alt, zur Polizei. Frau
Barankitse hat übrigens dafür gesorgt, dass die
meisten Kinder im Alter zwischen 8 und 14 Jahren
sich ihre eigenen Häuser bauten, die ihnen dann auch
gehörten. Und warum mußte so etwas Entsetzliches
passieren wie geschildert? Weil die Tutsi die
berechtigte Erwartung hatten, als Herrenrasse und
etwas Besseres über die Hutu herrschen zu dürfen,
diese evtl. auch ganz auszulöschen.
So was kennen wir aus dem Deutschland von 1933 bis
1945 ja auch. Die „berechtigte“ Erwartung nach den
Ölfeldern des Kaukasus führte zum Kaukasus-Feldzug;
die berechtigte Erwartung nach der Ukraine führte
zum Feldzug durch die Ukraine bis Stalingrad.
In einer Schülerzeitung fand ich folgenden Bericht
über ein hier stattfindendes Theater:
„Klamms Krieg“
Lehrer Klamm bekommt von seiner Klasse einen Brief
mit ungewöhnlichem Inhalt, denn auf seinem
Schreibtisch liegt eine Kriegserklärung. Sein
Schüler Sascha hat das Abitur nicht bestanden und
Selbstmord begangen. Nun machen die Schüler
Klamm dafür verantwortlich. Aber seine Position ist
klar. „Schule ist Zwang. Das war sie immer, das wird
sie immer sein, und Lehrer wie Schüler verdanken
diesem Zwang ihre gemeinsame Existenz.“ In diesem
Glauben nimmt er den Kampf gegen sein schweigendes
Gegenüber auf.
(Zitat): „Es kann in dieser Sache keine
Verständigung geben. Nicht zwischen mir und Ihnen.
Ich bin Lehrer. Meine Aufgabe ist es, Ihnen etwas
beizubringen. Wer fragt, ob ich lieber andere
Schüler hätte als Sie? Mein Ideal eines Schülers
steht nicht zur Debatte. Ebenso wenig wie Ihr Ideal
eines Lehrers“. (Zitat Ende).
In meiner Praxistätigkeit der letzten Jahre erlebe
ich zunehmend, dass die berechtigten Erwartungen der
Arbeitnehmer auf no-mobbing auf verbale Anerkennung
durch den Vorgesetzten, auf fürsorgliche
Telefonanrufe oder Besuche während ihres
Krankenstandes so wenig erfüllt werden, dass eine
tiefe innere Empörung resultiert, von Michael Linden
in Berlin „Verbitterungskrankheit“ genannt. In der
Regel fällt einer, dessen berechtigte Erwartungen im
Arbeitsleben nicht erfüllt wurden, zwischen 6 und 12
Monaten aus. Von wem rede ich? Von denen, die nehmen
wollen und es unberechtigter Weise nicht kriegen.
Zum Schluss mache ich einen Exkurs, der die Frage
beleuchtet, ob Nehmen wollen oder Geben wollen etwas
mit Krankheit zu tun hat? Wenn jemand durch das
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Missverhältnis von Nehmen und Geben krank wird, gibt
es dafür einen ICD-Code? Dieser Exkurs ist eine
Kurzfassung meines Sonderseminars „Psychiatrische
Krankheitslehre“ in etwa 3 Minuten:
Ich habe eingangs schon erkennen lassen, dass es
mangelnde innere Reife ist, sozusagen ein auf dem
kindlichen Funktionieren Stehen-Geblieben-Sein, das
zum Krieg führt. Es handelt sich dabei um eine
Software-Störung, die auch Sigmung Freud erkannt und
beschrieben hat, wenn er sagte, dass die
Neurosenkranke, die er beschrieben habe, doch alle
einen gewissen infantilen Zug aufwiesen. Jetzt sehe
ich das so und verdeutliche das gern an einem
Beispiel: Wenn ich mit dem Auto von Punkt A nach
Punkt B fahren will, hat das in meiner Sicht zwei
Erfordernisse:
a)
dass ich den Weg weiß und
b)
dass ich im Tank genügend Benzin habe.
Voraussetzung a) ist die Software-Störung über die
ich bisher gesprochen hatte. Erfordernis b) ist noch
nicht angeklungen. Das ist die Hardware-Störung, von
der es im Rahmen der seelischen Krankheit nur drei
Arten gibt, die ich eben vorstellen möchte.
1.)
Schiff auf hoher See, dem gerade der
Treibstoff ausgegangen ist – es kommt
halt nicht mehr voran und steuern kann man es
auch nicht mehr.
Das ist die
Depression.
2.)
Schiff auf hoher See: Leider ist die
Schiffsschraube hinten abgebrochen und unauffindbar
auf dem Meeresgrund. Resultat für das Schiff: Das
gleiche. Auch
dieses Schiff kommt nicht mehr voran und man
kann es nicht mehr steuern.
Der
Motor dreht aber wie verrückt –
Das sind die
Angstzustände.
3.)
Schiff auf hoher See: Leider sind Löcher im
Rumpf und das Wasser strömt
von außen nach innen. Das ist so lange
erträglich, wie die Pumpen das
Wasser schneller hinausbefördern als es von
außen hereinläuft. Aber wehe
wenn umgekehrt! Dann säuft der Pott ab. Es
handelt sich hier also nicht um
eine Störung des Antriebs oder des Vortriebs
sondern der Grenze, der Grenze
von außen nach innen oder umgekehrt. Und das
ist synonym für die
schizophrene Psychose.
Logischerweise werden Software-Störungen mit
Psychotherapie behandelt und Hardware-Störungen mit
Pharmakotherapie. Wo ist der Zusammenhang mit
unserem Thema? Ganz einfach: Jeder so Erkrankte
verliert damit automatisch sein Sein und seine
Eigenschaft als Gebender und wird zum Nehmenden. Der
Antriebs- oder Energiekranke wird für viele Monate
oder Jahre seines Lebens krank geschrieben, allein
die Depression macht derzeit bei der TKK 17 % aller
Krankschreibungen aus und bei den
Rentenversicherungsanstalten 34 % aller vorzeitigen
Berentungen. Immer handelt es sich um das Phänomen,
dass so jemand aufhört, seine Arbeitskraft und seine
Leistung zu geben und stattdessen einer wird, der
von der großen Mutter Rentenanstalt oder vom Vater
Staat die Alimentation nehmen möchte. Noch schlimmer
ist es bei den schizophren Erkrankten, also bei
denen mit der Störung
ihrer Ich-Grenze, bei denen sekundär auch die
Energie in Mitleidenschaft gerät (denn die Pumpen
fressen zu viel von dieser Energie): von denen sind
nach Beginn ihrer
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Erkrankung nur noch 10 % erwerbstätig und muß von
den Volksgemeinschaft durchgezogen werden
hinsichtlich Lebensunterhalt, Behandlung und aller
Versorgung. Die Schizophrenie ist neben der
Zuckerkrankheit und den Krebserkrankungen einer der
teuersten Volkserkrankungen überhaupt. Wiederum
erkennen wir eine Störung des Nehmens und Gebens.
Dieses Mal führt diese Störung nicht zum Krieg, weil
die Krankenrolle davon ausgenommen ist. Diese muß
aber erst mal durch viele juristische Instanzen
erkämpft werden, nachdem ja jeder Rentenantrag aus
medizinischen Gründen zunächst mal von den
Zahlungsträgern abgeschmettert wird.
Ich fasse zusammen:
Ob ich Krieg mache oder Frieden, hängt davon ab, ob
ich ein Nehmen wollender geblieben bin oder ob ich
mich zum Geben wollenden weiterentwickeln konnte?
Und hängt davon ab, ob es mir gelungen ist, die
Berechtigung meiner berechtigten Erwartungen auf
eine funktionale oder auch produktive Weise
einzuregulieren – d. h. zu entscheiden, welche
berechtigten Erwartungen ich nun wirklich mit
Nachdruck einfordern möchte und welche nicht. Davon
hängt ab, ob ich ein überwiegend Hassender bin oder
ein überwiegend Liebender? Und ich glaube, es war
Wilhelm Busch, der formulierte:
„Hass als minus und vergebens
wird vom Leben abgeschrieben.
Positiv im Buch des Lebens
steht verzeichnet nur das Lieben.
Ob ein minus oder plus
uns verblieben – zeigt der Schluss.“